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Europas Landkarte wird geändert

In der UdSSR und in Jugoslawien hat der ganz Osteuropa erfassende Prozeß des Zusammenbruchs der "sozialistischen" Gesellschaften und der Auflösung des "sozialistischen Weltsystems" (auch) die Form der nationalen Desintegration angenommen. Die militärischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien und der Putschversuch in der UdSSR scheinen diese Tendenzen zu verstärken. In die Landkarte Europas, die als Bestandteil der Nachkriegsordnung dauerhaft fixiert erschien, ist Bewegung gekommen.

Acht neue Staaten

Zwei Republiken Jugoslawiens - Slowenien und Kroatien - und sechs der UdSSR - Litauen, Lettland, Estland, Georgien, Armenien und Moldowa - beanspruchen, mit unterschiedlicher Dringlichkeit und Konsequenz, einen souveränen Status im vollen Sinn des Wortes, also Eigenstaatlichkeit. In Jugoslawien steht der Zentralstaat selbst auf dem Spiel, weil ohne Slowenien und Kroatien das schon in den letzten Jahren nur mehr schlecht als recht funktionierende Gleichgewicht der Kräfte in der Föderation definitiv zerstört ist. Jugoslawien ohne die beiden nördlichen Republiken wäre nur noch Großserbien mit Anhang. In diese Rolle wollen sich aber weder Bosnien- Herzegowina noch Mazedonien fügen. Beide Republiken haben ihren Austritt aus der Föderation angekündigt, falls eine Rückkehr Sloweniens und Kroatiens in den Staatenbund nicht zustande kommt.

In der UdSSR hatten vor dem Putschversuch acht der fünfzehn Republiken ihre Bereitschaft erklärt, den mühsam ausgehandelten Unionsvertrag zu unterzeichnen. Zu ihnen wäre vermutlich am Ende als Neunte im Bunde auch die Ukraine gekommen, die ihre Entscheidung aber erst im September treffen wollte. Die sechs genannten Republiken, die staatliche Souveränität beanspruchen, hatten sich von vornherein an den Debatten um den Vertrag nicht beteiligt. Möglicherweise wird es nach dem Putschversuch das Begehren geben, den Vertrag wieder in den Verhandlungsprozeß zurückzunehmen, um die Stellung der Zentralmacht noch mehr zu schwächen. Schon für den bisher vorliegenden Vertrag ist aber festzustellen, daß er der Zentralregierung kaum noch Kompetenzen beläßt und den Republiken eine Autonomie zugesteht, die wohl in keinem anderen großen Staat der Welt praktiziert wird. Gerade das war offenbar ein Argument und Motiv der Putschführer.

Föderation als freiwilliger Zusammenschluß

Die "abtrünnigen" Republiken der UdSSR und Jugoslawiens nehmen mit ihrer Entscheidung für Eigenstaatlichkeit das in den Landesverfassungen garantierte "Recht auf Lostrennung" wahr. Dies ist seiner Natur nach ein absolut einseitig ausübbares Recht. Das heißt, es bedarf weder der vorherigen Zustimmung der jeweiligen Zentralregierung noch des Konsenses sämtlicher übrigen Republiken. Allerdings setzt eine Lostrennung selbstverständlich umfangreiche und komplizierte Verhandlungen voraus, um bestehende Zusammenhänge sinnvoll und fair zu entflechten. Das hat aber auch keine der Republiken, die jetzt Staat sein oder werden wollen, in Frage gestellt. Das Problem in der UdSSR war bisher, daß die Zentralregierung, vertreten durch Gorbatschow, der in nationalen Fragen leider keine gute Hand hat, sich auf konkrete Trennungsverhandlungen mit den sechs Republiken überhaupt nicht einlassen wollte. (In Jugoslawien liegen die Dinge anders. Dort geht es schon seit einiger Zeit mehr um das Wie als um das Ob der Auflösung des Bundesstaates.)

Daß die UdSSR und Jugoslawien in ihren Verfassungen den Republiken das "Recht auf Lostrennung" sichern, ist historisch gesehen weder ein Zufall noch ein dummes Mißgeschick. Es hängt damit zusammen, daß sich beide Staaten vor dem Hintergrund negativer Erfahrungen explizit auf die Freiwilligkeit als Basis der Union/Föderation berufen. Daß dies den kapitalistischen Großmächten des Westens eigentlich nicht geheuer ist und daß ihre Sympathien naturgemäß erst einmal auf Seiten der Zentralregierungen sind, liegt auf der Hand. Die BRD beispielsweise ist per Verfassung und Gesetz eine Zwangsgemeinschaft, die auf den Voraussetzungen der preußisch dominierten Reichsgründung von 1871 beruht, die letztlich ein Produkt des Kriegs gegen Frankreich war. Aus diesem Zwangsverband kann niemand austreten wollen. Bereits die Absicht zur Lostrennung eines Bundeslands von der BRD wäre Hochverrat und könnte "rechtmäßig" mit der ganzen polizeilichen und militärischen Gewalt der Zentralmacht niedergeschlagen werden. (Das hindert aber bundesdeutsche Politiker und Publizisten nicht daran, allmählich ihre Sympathie für die "freiheitsliebenden" Balten, Slowenen und Kroaten zu entwickeln.)

Kroatien und "seine" Serben

Die Trennung Sloweniens vom Bundesstaat kann mittlerweile als weitgehend akzeptiert gelten, nachdem die maßgeblichen Kräfte Serbiens und der Armee sich dafür ausgesprochen haben, niemand gegen seinen Willen in der Föderation halten zu wollen. Eine Änderung dieser Position scheint noch nicht absolut ausgeschlossen, wäre aber wohl nur unter den Voraussetzungen eines Staatsstreichs in Belgrad und mit den Mitteln der Kriegführung zu realisieren. Das außenpolitische und wirtschaftliche Risiko einer solchen Option wäre für Serbien größer als jeder vorstellbare Nutzen.

Komplizierter ist die Situation Kroatiens. Angesichts der Tatsache, daß Teile der Republik eine serbische Bevölkerungsmehrheit haben, ist die offizielle Position der Zagreber Regierung, absolut über keine Änderung der Republikgrenzen mit sich reden zu lassen, politisch unhaltbar. Zagreb wird wahrscheinlich selbst in den prinzipiell mit den "abtrünnigen" Republiken sympathisierenden Kreisen der BRD und Österreichs für eine derart kategorische Haltung nur wenig öffentliche Unterstützung finden. Durch alle Kommentare aus diesem Spektrum zieht sich die Meinung, daß Kroatien - anders als Slowenien - etliche schwere Fehler gemacht habe. Unter diesen Fehlern wird meist die ganz unflexible, kompromißlose Haltung gegenüber dem serbischen Bevölkerungsteil der Republik genannt.

Auf der anderen Seite wird auch Serbien große Probleme haben mit seinem Anspruch, bei Auflösung Jugoslawiens müßten Serbiens Grenzen auf alle Gebiete ausgeweitet werden, wo Serben leben. Oft wechseln die Mehrheiten von Dorf zu Dorf, oder beide Volksgruppen sind annähernd gleich groß. Belgrad wird wohl akzeptieren müssen, daß bei einer Kompromißlösung viele Serben außerhalb ihrer Republik bleiben werden oder auswandern müßten, wenn sie in Serbien leben wollen. Allein in der kroatischen Hauptstadt Zagreb gibt es ungefähr 100.000 Serben.

Das militärische Kräfteverhältnis ist für Kroatien nicht aussichtsreich. Die Republik hat seit Ende Juni bei der beabsichtigten Rückeroberung serbischer Gebiete, die ihre Autonomie erklärt haben, keine Erfolge erreicht, sondern anscheinend eher noch Boden verloren. Daß Einheiten der Bundesarmee an der Seite der serbischen Milizen eingegriffen haben, ist sicher vorgekommen. Das Ausmaß dieser Unterstützung wird aber von Kroatien vermutlich übertrieben. Bei einem systematischen Eingreifen der Bundesarmee und/oder der offiziellen serbischen Streitkräfte hätten die Dinge sicher einen sehr viel rasanteren Verlauf genommen.

Nach Schätzungen in der Presse (Stand Ende Juli) hat Kroatien die Kontrolle über etwa 5% seines Territoriums an die serbischen Autonomisten verloren. Das ist punktuell schmerzlich, wäre aber an sich noch keine "nationale Katastrophe" für die Republik, soweit es sich um Grenzregionen handelt. Sehr ernst ist jedoch das Problem des autonomen serbischen Gebiets um Knin (Krajina). Wenn dieser Bereich konsolidiert, ausgedehnt und aus der Republik herausgelöst werden würde, wäre die ganze Südhälfte der kroatischen Mittelmeerküste (Dalmatien) abgeschnitten. Das Risiko wäre dann, daß auch dieser südliche Landesteil verloren gehen könnte. Aber schon ohne diese extreme Konsequenz wären die Folgen schwerwiegend, besonders für den Wirtschaftsfaktor Tourismus.

Welche Entwicklungsmöglichkeiten sind denkbar?

1. Kroatien könnte durch Integration in einer mehr oder weniger reformierten Föderation - wahrscheinlich in jedem Fall ohne Slowenien - und eine großzügige Autonomie-Regelung vielleicht das Problem seiner Grenzen "entschärfen". Die Frage ist, ob die Propagandisten eines größeren Serbiens, und das sind heute alle relevanten Kräfte dieser Republik, daran überhaupt noch interessiert sind.

2. Es könnte eine Fortsetzung und Eskalation der militärischen Konfliktaustragung bis zu einer definitiven Entscheidung geben. In diesem Fall wäre mit einer sehr verstärkten direkten Unterstützung Serbiens für die serbischen Milizen zu rechnen. Nach militärischen Maßstäben bestünde am Ausgang eines solchen Konflikts kein Zweifel. Die Frage wäre aber, was Serbien außenpolitisch riskieren will und kann.

3. Es könnte zu einer Verhandlungslösung kommen, bei der Kroatien wohl einige Gebiete mit geschlossener serbischer Mehrheit herausgeben müßte, eventuell nach erneuten militärischen Konfrontationen, eventuell verbunden mit einem Referendum, eventuell als international vermittelter und kontrollierter Vorgang.

Der serbisch-kroatische Konflikt berührt unmittelbar auch Bosnien-Herzegowina. Die serbische Bevölkerungsgruppe im Nordwesten dieser Republik (Bosanska Krajina) hat gleichfalls ihre Autonomie erklärt. Serbische Milizen üben dort anscheinend die faktische Kontrolle aus. Das relativ große geschlossene Gebiet dient als Hinterland für die Kriegführung in den kroatischen Grenzregionen. Und mehr noch: Die serbischen Gebiete Kroatiens ziehen sich - abgesehen von Ost- slawonien, das an die serbische Wojwodina grenzt - rund um die Grenzen von Bosnien-Herzegowina. Die Bosanska Krajina ist das logische Mittel- und Verbindungsstück dieses "serbischen Gürtels". Nur unter Einbeziehung des nordwestlichen Bosniens könnte ein geschlossenes serbisches Gebiet aus Kroatien herausgelöst werden, das eine direkte Verbindung mit dem "Mutterland" hat. Das serbische Begehren, die innerjugoslawischen Grenzen neu festzulegen, meint also immer auch Aufteilung der Republik Bosnien-Herzegowina. Für dieses Thema gibt es in Zagreb aufmerksame Gesprächspartner.

Serbischer Chauvinismus

Beim Stand der Dinge erscheint die Trennung Sloweniens und Kroatiens von der Föderation als vorerst unumkehrbar. Diese Trennung ist keine aus "Haß und Unvernunft" geborene "Kurzschlußreaktion", sondern hat eine Vorgeschichte von mehreren Jahren. Die Wurzeln der Konflikte reichen vor die Zusammenbruchswelle zurück, die ganz Osteuropa in der zweiten Jahreshälfte 1989 erfaßte. Die Sonderwege der beiden Republiken wurden durch jene Welle gewiß gefördert, sind aber nicht deren Produkt. Die gängige Erklärung, daß hier wieder einmal zwei Völker die Trennung von ihren ärmeren Landsleuten vollziehen, um sich beim Wettlauf ins "Haus Europa" besser plazieren zu können, trifft zwar zu, greift aber viel zu kurz. Es ist daran zu erinnern, daß den Sonderwegen der beiden Republiken die Welle des großserbischen Chauvinismus voranging, die im Frühjahr 1987 begann. Mit einer nationalistischen "Säuberung" des serbischen Apparats, mit der Aufhebung der in der Bundesverfassung garantierten Autonomie des Kosovo und der Wojwodina, und mit dem inszenierten Sturz der Führung Montenegros unternahm Serbien den Versuch, die auf Gleichberechtigung beruhenden Grundlagen des titoistischen Jugoslawiens wesentlich zu verändern und sich eine klare hegemoniale Stellung zu verschaffen. Außerdem kam aus Serbien der stärkste Widerstand gegen eine politische Liberalisierung. Insbesondere Slowenien war dadurch genötigt, sich schrittweise autonomen Spielraum zu erkämpfen und zu sichern, um seinen Demokratisierungskurs nicht durch massive Eingriffe der Bundesbehörden behindern zu lassen. Hinzu kam, daß in Slowenien (und Kroatien) die serbische Besatzungspolitik im Kosovo mehr und mehr als Skandal und als schwere Belastung für den jugoslawischen Weg "nach Europa" gesehen wurde. Seit dem Zusammenbruch der osteuropäischen Regimes Ende 1989 sind die Zustände im Kosovo tatsächlich einmalig in Europa.

Erschwerend kam hinzu, daß sich in Serbien keine relevante Opposition gegen den Neochauvinismus entwickelte. Selbst "undogmatische Dissidenten" schlossen sich dem allgemeinen Taumel an und bekundeten ihre Zustimmung zur totalen Repression im albanischen Kosovo. Serbiens konservative, antisozialistische Opposition ist in ihrem Nationalismus sogar noch radikaler als die regierende Sozialistische Partei.

Ohne Rückkehr Serbiens zu den "Geschäftsgrundlagen" des jugoslawischen Bundesstaates, wofür es jedoch keinerlei Anzeichen gibt, scheint eine Reintegration Sloweniens und/oder Kroatiens in den Bundesverband ausgeschlossen. Allenfalls könnte sie vielleicht militärisch erzwungen werden, was aber angesichts der Kräfteverhältnisse und zu erwartender internationalen Reaktionen unwahrscheinlich ist.

Weiterer Zerfall Jugoslawiens

Falls sich die Trennung Sloweniens und Kroatiens von der Föderation stabilisiert, ist auch der Bestand des übrigen Jugoslawiens kaum noch zu retten. Beim Stand der Dinge würde es sich um einen serbisch bestimmten Staat handeln, in dem Montenegro sich völlig assimilieren würde und in dem Bosnien-Herzegowina und Makedonien nur eine zweitrangige Existenz führen könnten. Beide Republiken haben schon angekündigt, daß sie bei definitiver Lösung Sloweniens und Kroa- tiens vom Bundesstaat keinen Sinn mehr in einem Verbleiben in der Union mit Serbien/Montenegro sehen würden. Dies würde die Frage der Grenzen von Bos- nien-Herzegowina verschärfen. Nach Ansicht der Regierung in Sarajewo würde der Versuch einer ethnischen Aufteilung die Republik in einen Bürgerkrieg stürzen.

Ein großes Problem- und Gefahrenpotential enthält auch die Zukunft des Kosovo. Die illegale albanische Opposition der Region - Serbien hat alle politischen Organisationen und Strukturen der Albaner verboten - hat in letzter Zeit erstens ihre Kontakte mit Albanien ausgebaut. Sie hat zweitens angekündigt, daß sie bei einem Auseinanderfallen Jugoslawiens ebenfalls das Recht auf nationale Souveränität beanspruchen wird. Falls Serbien nicht - im Widerspruch zu seiner ganzen bisherigen Praxis und wider alle Wahrscheinlichkeit - einer Demokratisierung des Kosovo, bis hin zumindest zur Wiedereinsetzung der Autonomierechte, wie sie in der jugoslawischen Verfassung von 1974 verbrieft waren, zustimmt, falls Serbien also nicht diesen Weg geht oder gar Kosovo ganz einfach freigibt, sind in diesem Landesteil heftige Konfrontationen zu erwarten. Die Kosovo-Albaner haben bisher große Geduld und Zurückhaltung aufgebracht, die aber nicht als Mangel an tendenzieller Militanz mißverstanden werden sollte. Wenn Serbien am Besatzungsregime festhält und dieses vielleicht sogar verschärft, wäre eine bewaffnete Revolte des Kosovo nicht auszuschließen. Serbien würde dann wahrscheinlich militärisch antworten, einschließlich eines chauvinistischen Massenaufgebots von bewaffneten Serben, die zu Zigtausenden als Helfer der Besatzungsmacht ins Kosovo geschickt werden könnten. Da Albanien sich in einem solchen Konflikt schwerlich absolut neutral und passiv verhalten könnte, wäre dann auch eine zwischenstaatliche kriegerische Auseinandersetzung nicht auszuschließen.

Ein Wendepunkt in der Osteuropa-Politik der BRD

Die Destabilisierung Osteuropas seit 1989 hat sicher dem BRD-Imperialismus weit mehr genutzt als irgendeiner anderen Großmacht. Ebenso nutzt auch die Desintegration der UdSSR und Jugoslawiens dem BRD-Imperialismus am meisten. Die Parzellierung Osteuropas und der UdSSR (früher Rußlands) ist ein klassisches Projekt des deutschen Imperialismus mindestens seit Beginn des 1. Weltkriegs. Diese Seite des Problems macht es besonders schwer und kompliziert, zu Slowenien, Litauen usw. eine prinzipielle linke Position im Sinne des Selbstbestimmungsrechts zu formulieren und zu vertreten.

Die aktuelle jugoslawische Krise stellt vermutlich einen Wendepunkt in der Strategie der herrschenden Kräfte der BRD dar. Bis jetzt haben sie sich im Einklang mit der übrigen EG und den USA jedem Schritt zur Anerkennung der neuproklamierten Republiken verweigert und das Prinzip der territorialen Integrität aller bestehenden Staaten bedingungslos unterstützt. Wenige Tage vor den seit Monaten feststehenden Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens (26. Juni), machte sich US-Außenminister Baker in Belgrad für den Erhalt der Föderation stark, warnte vor "einseitigen Schritten" und lehnte eine Anerkennung der beiden Republiken durch die USA ab. Genau gleichzeitig gewährte die EG der jugoslawischen Zentralregierung neue Kredite von 1,5 Milliarden Mark, die ausdrücklich als "Zeichen der Solidarität und der Unterstützung" für den Erhalt des Bundesstaats angekündigt wurden. Der Westen hatte also, ohne erkennbaren Dissens der BRD, bis zum 26. Juni einen starken Druck auf Slowenien und Kroatien ausgeübt, "es sich noch einmal zu überlegen". Dies war zweifellos eine massive Einmischung und Erpressung, allerdings aus bestimmtem linken Blickwinkel eine durchaus erwünschte und daher nicht zu kritisierende Einmischung.

Wir erleben nun eine Umorientierung unter den Politikern der BRD. Die Tendenz, zumindest Slowenien anzuerkennen bzw. die Anerkennung Sloweniens (und Kroatiens) als Druckmittel gegen eine militärische Intervention der Zentralmacht und Serbiens einzusetzen, wächst in CDU/CSU, FDP und SPD sowie in den Medien rapide.

Dem Fall Sloweniens (und Kroatiens) käme vermutlich auch die Funktion eines allgemeinen Präzedenz zu: die offizielle Haltung der BRD insbesondere zu den baltischen Republiken der UdSSR könnte sich danach ebenfalls ändern. Dieser Umorientierung käme zugute, wenn die jugoslawische Armee nochmals gegen Slowenien vorginge - was allerdings inzwischen eher unwahrscheinlich ist -, oder wenn die Bundesarmee und Serbien in Kroatien massiver intervenieren würden. Das würde als neuerliche Bestätigung für das Scheitern der bisherigen, auf Erhalt bestehender Staatsverbände gerichteten westdeutschen und allgemein westlichen Politik interpretiert werden.

Schon jetzt ist der vorherrschende Tenor in den westdeutschen Medienkommentaren, daß die bisherige Politik des Westens nur die Sturheit der jugoslawischen, insbesondere serbischen "Konservativen" gefördert habe und sie ermutigt habe, sich einem demokratischen Umbau des jugoslawischen Bundesstaates zu widersetzen. In ähnlichem Sinn wird nun auch der Putschversuch in der UdSSR als Argument für die Aufforderung genommen, die Aufwertung der drei baltischen Republiken offensiver zu betreiben.

Ende des westlichen Konsenses?

Die westlichen Großmächte haben bisher im Wesentlichen eine einheitliche Position gegenüber dem revolutionären Wandel in Osteuropa präsentiert. Widersprüche wurden nur beim Anschluß der DDR deutlich - und schnell wieder beiseite gelegt, als die Regierenden in London, Paris usw. sahen, daß sich an der Sache so oder so nichts mehr ändern lassen würde. Im Fall Jugoslawiens erfolgte selbst nach der militärischen Zuspitzung der Auseinandersetzungen eine bewußte Unterordnung der speziellen Vorstellungen der BRD unter den Erhalt des EG-Konsenses (Vermeidung von "Alleingängen").

Indessen war schon seit den Umstürzen von 1989 absehbar, daß die totale Destabilisierung Osteuropas mittelfristig eine Verschärfung der Widersprüche zwischen den kapitalistischen Großmächten begünstigen würde (Kampf um Einflußgebiete, Märkte, kulturelle Dominanz usw.). Die BRD hat in den kommenden Verteilungskämpfen die besten Chancen, nicht nur die stärkste ökonomische Position, sondern auch eine politische Hegemonie in Osteuropa zu erreichen. Das setzt aber voraus, daß sie zunehmend aus dem "Schatten" der EG heraustritt und eigene Positionen auch regierungsoffiziell deutlicher akzentuiert formuliert.

Im Fall Sloweniens und Kroatiens deutet sich diese Ausdifferenzierung im westlichen Spektrum bereits an. Künftig wird sich die Bundesregierung wahrscheinlich deutlicher "positionieren", und dies wohl unter Umständen auch recht scharf in Abgrenzung zu Frankreich und Großbritannien. Die jetzt offiziell verfügte wirtschaftliche Vorzugsbehandlung Sloweniens und Kroatiens stellt schon einen großen Schritt in diese Richtung dar.

Künftig wird es mit einer gewissen "Unvermeidlichkeit" dahin kommen, daß die EG-Staaten, die USA und Japan in Sachen Osteuropa/UdSSR nicht mehr nach außen als monolithischer Block agieren, sondern reale Sonderinteressen deutlicher zum Ausdruck bringen, unter Umständen auch in offener Konkurrenz und Polemik gegeneinander. Die Osteuropa-Politik der westlichen Großmächte könnte dann wieder Züge internationaler diplomatischer Konflikte annehmen. Sogar militärische Interventionen und Konfrontationen wären langfristig nicht auszuschließen.

Ein linkes Ja zum Recht auf Lostrennung

Die Linke wird nicht umhin können, zur staatlichen Souveränität der neu proklamierten Republiken, soweit sie von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird, eine grundsätzlich und praktisch akzeptierende Haltung einzunehmen, zumindest aber keine Politik mitzutragen, die den Erhalt des territorialen Status quo per se als Wert verteidigt.

Die Linke hat sich bisher um die Nationalprobleme in Osteuropa so gut wie überhaupt nicht gekümmert. Kosovo war kein Thema, die Unterdrückung der türkischen Minderheit in Bulgarien war kein Thema. Nationalismus wurde - zurecht - als reaktionär wahrgenommen, wobei aber zwischen dem unterdrückenden Nationalismus und dem Nationalismus der Unterdrückten kaum ein Unterschied gemacht wurde.

Andererseits gibt es eine traditionelle linke Position zum nationalen Selbstbestimmungsrecht, die es eigentlich a priori ausschließt, eine negative Haltung zum "Recht auf Lostrennung" einzunehmen. (Das schließt eine kritische Position entsprechend den Umständen des konkreten Falls überhaupt nicht aus.)

Es müßte von Linken akzeptiert werden, daß keine Nation in einem Staatsverband gehalten werden sollte, in dem sie nicht freiwillig bleiben will. Freiwillig werden Nationen in einem Staatsverband bleiben, solange sie sich davon Nutzen versprechen. Wenn dieser entfällt oder nicht mehr gesehen wird, kann der Staatsverband nur noch durch inneren und/oder äußeren Druck und Gewalt aufrecht erhalten werden. Je mehr die Gewalt gesteigert wird, umso weniger wird den Unterworfenen noch ein freiwillig zu akzeptierender Nutzen der Föderation vor Augen stehen.

Den neuen Republiken die Anerkennung zu versagen, macht nur Sinn, wenn man den Zentralmächten (Moskau und Belgrad) die Fähigkeit zutraut, die Republiken in absehbarer Zeit irgendwie wieder zu integrieren. Wobei "irgendwie" nach Lage der Dinge die Anwendung massiver militärischer und repressiver Gewalt einschließt, wovor nach Lage der Dinge ehrlicherweise niemand mehr die Augen verschließen kann. Das Fehlen ökonomischer Reserven in beiden Staatsverbänden macht es unwahrscheinlich, die "abtrünnigen" Republiken zum Verbleib in der Union gewissermaßen zu bestechen. Die desolate Wirtschaftslage erhöht zusätzlich den Stellenwert der Anwendung direkter Gewalt für eine "Konfliktlösung".

Die Weigerung der sowjetischen Zentralmacht, den Staatsverband mit allen praktischen Konsequenzen als freiwilligen und gleichberechtigten Zusammenschluß zu konzipieren, hat die Tendenz zur Loslösung vorangetrieben - zumal wenn diese Weigerung, wie in den baltischen Republiken, mit provokatorischen militärischen Aktionen einherging. Umgekehrt wäre eine prinzipielle Akzeptanz der "Sonderwege" einzelner Republiken und Nationen die beste Ausgangsbasis, um künftig noch eine sinnvolle Kooperation zu realisieren. Von diesem Grundsatz läßt sich anscheinend bisher die Politik Jelzins leiten. Die Russische Föderation hat inzwischen bilaterale Verträge mit wohl allen "abtrünnigen" Republiken abgeschlossen, die deren selbstgewählte Unabhängigkeit respektieren.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 26. August 1991