KNUT MELLENTHIN

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Menschenjäger im Dienst der EU

Zahl der Mittelmeer-Flüchtlinge sinkt um 82 Prozent. Für Merkel und Gabriel heiligt der Zweck die Mittel.

Für die betroffenen Menschen ist es schrecklich. Aber europäische Politiker, vor allem die Regierungen in Berlin, Rom und Paris, feiern es als Riesenerfolg: Im August gelang nur noch 3.892 Menschen die Flucht über das Mittelmeer nach Italien. Ein Jahr zuvor waren es im gleichen Zeitraum 21.294 Menschen gewesen. Quelle dieser Zahlen ist die Internationale Organisation für Migration (IOM), die unter anderem als bezahlter Dienstleister bei Massenabschiebungen in Erscheinung tritt.

Die Differenz zwischen beiden Zahlen ergibt 17.402 Menschen. In einem einzigen Monat. Wie sich das erklärt, will weder Kanzlerin Angela Merkel noch Außenminister Sigmar Gabriel und schon gar nicht Innenminister Thomas de Maizière wissen. Wenn der Trend anhält, kommen bis zum Jahresende weitere 70.000 Flüchtende hinzu, die auf dem Weg aus verschiedenen Teilen Afrikas nach Europa irgendwo „hängengeblieben“ sind, ohne dass die EU sich für ihren Verbleib interessiert.

Mehrere Ursachen kommen für diese Entwicklung in Frage: Erstens, die libysche Küstenwache ist in diesem Jahr massiv verstärkt worden. Vor allem Italien hat nicht nur die Reparatur älterer Patrouillenboote übernommen, sondern zugleich auch mehrere neue Schiffe geliefert. Zweitens, die Zahl der aus Marokko nach Spanien Flüchtenden hat zugenommen. Aber bei weitem nicht in einem Ausmaß, das die Differenz von 17.402 Menschen erklärt. Drittens, der Druck der libyschen Küstenwache und der von der EU unterstützten italienischen Behörden hat dazu geführt, dass private Hilfsorganisationen ihre Rettungsaktionen im Mittelmeer fast vollständig einstellen mussten. Viertens, möglicherweise haben weniger Menschen als im Vorjahr den Weg aus den Nachbarstaaten Niger und Tschad über die besser bewachte Südgrenze Libyens geschafft. Verlässliche Informationen liegen dazu jedoch nicht vor. Fünftens, an der libyschen Mittelmeerküste treten verstärkt kriminelle Banden auf, die aus dem „Abfangen“ von Flüchtlingen ein Geschäft zu machen versuchen.

Was geschieht mit den Menschen, vermutlich mehr als 10.000 in jedem einzelnen Monat, die von der Küstenwache oder den teilweise direkt mit ihr zusammenarbeitenden Menschenjäger-Banden „aufgegriffen“ werden? Wenn sie vergleichsweise Glück haben, vermehren sie die Masse der 600.000 oder 700.000 in Libyen „gestrandeten“ Flüchtlinge und Migranten. Im schlechteren Fall werden sie in Lager gesperrt, in denen nach vielen übereinstimmenden Berichten brutale Misshandlungen, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit sowie unzureichende Ernährung und schlechte medizinische Versorgung an der Tagesordnung sind.

Ein Zentrum der Menschenjäger-Banden ist die westlibysche Hafenstadt Sabratha. Die Washington Post, die FAZ und andere Medien berichten, dass dort zwei solche Privatmilizen tätig seien, die sich „Brigade 48“ und „Al-Ammu“ nennen; ihre Stärke liegt nach ihren eigenen Angaben bei jeweils 400 bis 500 Mann. Geleitet werden die zwei Banden von Ahmed Dabaschi und einem seiner Brüder. Sie gehören zu einer Großfamilie, die auch einen inzwischen getöteten Kommandeur des libyschen Ablegers der Terrororganisation „Islamischer Staat“ stellte. Über Ahmed Dabaschi hieß es in einem UN-Bericht, der am 1. Juni veröffentlicht wurde, noch, dass er der Chef einer der wichtigsten Organisationen sei, die in den „Menschenschmuggel“ über das Mittelmeer verwickelt seien.

Die Nachrichtenagentur AP berichtete am 29. August, dass „Brigade 48“ und „Al-Ammu“ sowohl von italienischen Stellen als auch von der international anerkannten libyschen Regierung in Tripoli bezahlt würden. Das haben diese jedoch, wie nicht anders zu erwarten, dementiert. Beweise gibt es anscheinend nicht. AP stützte sich lediglich auf Behauptungen von Sprechern der beiden Banden.

Unbestritten ist aber, dass Italien und andere EU-Staaten die libysche Küstenwache unterstützen, die mit ähnlichen Methoden arbeitet wie die Menschenjäger-Banden. Die Opposition im Bundestag hat es bisher unterlassen, daraus ein Thema im Wahlkampf zu machen. 

Knut Mellenthin

Junge Welt, 7. September 2017