KNUT MELLENTHIN

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Irak: US-Armee will militärischen "Durchbruch" erzwingen

Nach der Präsidentenwahl wollen die USA die Aufstandsbekämpfung im Irak massiv verstärken. Sturmangriff auf 22 Städte geplant. Kriegskosten der USA explodieren, werden im kommenden Jahr bei mindestens 70 Milliarden Dollar liegen. Starke Zunahme des bewaffneten Widerstands seit Verkündung der Schein-Souveränität Ende Juni. Ohne Wiedereinführung der Wehrpflicht ist die US-Armee am Rand ihrer Möglichkeiten angekommen.

Seit Wochen hat die US-Armee starke Kräfte um Falludscha, das Symbol des irakischen Widerstands, zusammengezogen und die 300.000-Einwohner-Stadt fast vollständig von der Umwelt abgeschnitten. Systematisch zerstört die amerikanische Luftwaffe an jedem Tag der Belagerung ein Wohnhaus Falludschas, löscht das Leben einer Familie aus. Diese infame Form der Einschüchterung wird jedes Mal neu begründet: Mal planten angeblich hochrangige Terroristen gerade einen Anschlag, mal sollen Waffen aus LKWs in ein Lager verladen worden sein oder umgekehrt, und meist ist der legendäre Oberterrorist Zarkawi im Spiel, dem die US-Propaganda fast alle großen Anschläge zuschreibt.

Die amerikanischen Medien gehen davon aus, dass die Armee nur noch die Präsidentenwahl am Dienstag abgewartet hat und dass schon in dieser Woche zum zweiten Mal ein Sturmangriff auf Falludscha beginnen wird. Bei der ersten Belagerung Falludschas im April töteten amerikanische Soldaten mehr als 1000 Zivilisten. Die Angriffe wurden abgebrochen, als sich sogar kollaborationswillige Politiker den Protesten gegen dieses Massaker anschlossen und gleichzeitig eine bewaffnete Revolte im schiitischen Landesteil ausbrach.

Das Pentagon hat jetzt zur Verstärkung des Angriffs auf Falludscha, vor allem aber als einschüchternde Demonstration, die Zahl seiner Truppen im Irak kurzzeitig von 138.000 auf 142.000 erhöht, indem 6.500 Soldaten, deren Dienstzeit eigentlich abgelaufen ist, zwei Monate länger im Land bleiben müssen.

Außerdem hat Washington die britische Regierung veranlasst, 850 Soldaten aus dem Süden Iraks in die Nähe von Bagdad zu verlegen, angeblich um dadurch amerikanische Soldaten für den Sturm auf Falludscha frei zu machen. Zahlenmäßig ist das offensichtlich ein absurdes Manöver. Seine politische Bedeutung liegt jedoch darin, dass erstens Großbritannien demonstrativ in die bevorstehende amerikanische Großoffensive eingebunden wird und zweitens britische Truppen aus ihrer vergleichsweise ruhigen Zone um Basra in ein Kampfgebiet verlegt werden.

Neben Falludscha steht auch die Nachbarstadt Ramadi im Zentrum amerikanischer Angriffsvorbereitungen. Insgesamt sind es 15 größere und 7 kleinere Städte im sogenannten sunnitischen Dreieck des Irak, in denen die US-Armee in den kommenden Wochen die Kontrolle zurückgewinnen will, die dort seit einem halben Jahr vom bewaffneten Widerstand ausgeübt wird. Angeblich soll diese Offensive dazu dienen, die Durchführung der im kommenden Januar geplanten Wahlen auch in den mehrheitlich sunnitischen Teilen Iraks zu gewährleisten. Als erstes wurde Anfang Oktober Samarra, 70 km nördlich von Bagdad, besetzt. Obwohl die US-Armee behauptet, die Stadt unter Kontrolle zu haben, werden fast täglich Schießereien und Angriffe auf Polizeiposten des Marionettenregimes gemeldet.

Das Dilemma der Besatzer ist, dass sie die aufständischen Städte zwar dank ihrer erdrückenden militärischen Überlegenheit ohne große eigene Verluste in kurzer Zeit überrennen können, aber die Macht gegen eine feindselig eingestellte Bevölkerung nicht dauerhaft behaupten können. Die geplante Großoffensive gegen die "Rebellenstädte" wird das politische Vorhaben der Besatzer, eine breitere Kollaborationsbasis unter den Sunniten zu gewinnen, nicht fördern, sondern noch mehr erschweren. Schon haben einflussreiche Geistliche der sunnitischen Gemeinschaft angekündigt, dass sie zum Boykott der Januarwahlen aufrufen werden, falls die US-Armee ihren Feldzug gegen die "Rebellenstädte" fortsetzt. Zugleich appellierten sie an sunnitische Kollaborationspolitiker, aus der Marionettenregierung auszutreten.

"Machtübergabe" gescheitert

Die mit großem Propaganda-Aufwand vorbereitete, am 28. Juni vollzogene "Machtübergabe" an eine angeblich souveräne Regierung unter Führung des langjährigen CIA-Agenten Ajad Allawi ist weitgehend gescheitert. Zwar können die USA außenpolitisch als Erfolg verbuchen, dass Allawi von den arabischen Staaten, von den Europäern und Russland sowie von der UNO als Regierungschef behandelt wird. Das trägt zur internationalen Legitimierung der Besatzung bei. Für die inneren Verhältnisses des Landes hat sich die Einsetzung Allawis jedoch als absolut nutzlos erwiesen. Die Illusion einer "Irakisierung" des Krieges, wobei die im Aufbau befindliche irakische Armee entscheidende Aufgaben übernehmen und den Amerikanern ein stark reduziertes Agieren aus dem Hintergrund ermöglichen sollte, ist sehr schnell geplatzt.

Auf dem Papier ist Allawis Armee schon über 100.000 Mann stark. Weitere 45.000 sollen bis Jahresende hinzu kommen. Vorläufig taugt diese Truppe aber nur als Dekoration, wenn amerikanischen Angriffen auf die Städte, die voraussehbar erhebliche Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern werden, ein "irakischer" Anstrich gegeben werden soll. Selbst optimistische US-Militärs sprechen lediglich von der Hoffnung, dass diese Truppe im Juli nächsten Jahres in der Lage sein könnte, einzelne selbstständige Aktionen zu unternehmen - "mit ein bisschen Unterstützung", wie sie vorsichtig hinzufügen. Beim Angriff auf Samarra Anfang Oktober machten sich von den 750 Soldaten eines irakischen Bataillons 300 rechtzeitig davon. Die Amerikaner sprechen offen darüber, dass die Marionettenarmee politisch unzuverlässig und vom Widerstand unterwandert ist. Kein Wunder, da sie sich nicht aus Begeisterung für die Besatzung, sondern aus der Massenarbeitslosigkeit und Verelendung speist.

Die monatlichen Verluste der US-Armee an Toten und Verwundeten belaufen sich seit der "Machtübergabe" auf durchschnittlich 747, sind also deutlich gestiegen. Während des Angriffs im März und April vorigen Jahres waren es im Monatsdurchschnitt 482, in der folgenden Zeit bis Ende Juni dieses Jahres 415. Bei Kämpfen wurden im Juni dieses Jahres 42 US-Soldaten getötet, im Juli 54, im August 66 und im September 80. Die offizielle Zahl für Oktober wurde noch nicht bekannt gegeben. Sie dürfte bei 60 liegen, also niedriger als in den beiden Vormonaten. Die höchsten Verluste hatte die US-Armee im April mit 135 Toten, als sie gleichzeitig mit dem Widerstand im sunnitischen Dreieck und der schiitischen Revolte konfrontiert war.

Die Zahlen lassen sich aber nur bedingt miteinander vergleichen, weil die amerikanischen Truppen ihre Patrouillen und Razzien in manchen als besonders gefährlich geltenden Regionen stark reduziert oder ganz eingestellt haben. Niedrigere amerikanische Verluste deuten also nicht unbedingt auf nachlassenden Widerstand hin, sondern können auch das Ergebnis einer geringeren Präsenz der Besatzungstruppen und eines Verlusts der Kontrolle über manche Landesteile sein.

Seit der "Machtübergabe" haben die Angriffe auf die im Aufbau befindliche Polizei und Armee des Marionettenregimes stark zugenommen, ebenso wie gegen alle Arten von Hilfskräften der Besatzer und des Regimes. Im Fastenmonat Ramadan, der Mitte Oktober begann, hat der bewaffnete Widerstand die Zahl seiner Aktionen nochmals um 25 bis 30 Prozent gesteigert, auf derzeit 80 im Tagesdurchschnitt. Vor der "Machtübergabe" waren es lediglich 40 bis 50. Mit großem Erfolg greift der Widerstand gezielt Funktionäre des Marionettenapparats an, wie am Montag den Vizegouverneur von Bagdad, der trotz Leibwächtertruppe in seinem Fahrzeug erschossen wurde.

Über 80 Prozent aller Angriffe konzentrieren sich in vier der 18 irakischen Provinzen: Bagdad sowie Anbar, Salah ad Din und Ninawa im sunnitischen Dreieck. Die Sunniten stellen also nach wie vor die stärkste Kraft des Widerstands dar, während es den Besatzern und dem Regime zunächst gelungen scheint, die schiitische Revolte des Sommers weitgehend unter Kontrolle zu kriegen und in ein Konzept der politischen Opposition zu integrieren. Der Versuch, der Miliz des radikalen schiitischen Geistlichen Moqtada Sadr ihre Waffen abzukaufen, scheint in Bagdad nicht völlig erfolglos verlaufen zu sein, auch wenn das Ergebnis wohl nicht ganz den hochgespannten Erwartungen entsprach.

Allawi: Lage in Bagdad "sehr gut und sicher"

Allawi behauptet, dass die Situation in 14 bis 15 der 18 irakischen Provinzen "vollkommen sicher" sei. Die Lage in Bagdad sei "sehr gut und sicher" - mit 22 Angriffen im Tagesdurchschnitt! - und in den übrigen drei Provinzen gebe es nur wenige vereinzelte Widerstandsnester. "Der einzige Ort, der wirklich nicht so sicher ist", sei Falludscha. Tatsächlich gibt es, abgesehen von den Gebieten mit kurdischer Mehrheit, keine irakische Provinz ohne erhebliche Widerstandstätigkeit. Seit September haben, einer Analyse der Washington Post vom 26.9. zufolge, die Aktionen außerhalb der drei sunnitischen Kernprovinzen stark zugenommen.

Ausländische Journalisten und Kaufleute vermeiden Reisen durchs Land und verlassen den stark befestigten, von amerikanischen Panzern und MG-Schützen bewachten Bereich der "Grünen Zone" im Zentrum Bagdads kaum noch. Die UNO, von der sich die US-Regierung eine stärkere Rolle zur Legitimierung der Besatzung und bei der Durchführung der Januarwahlen gewünscht hatte, ist im Irak nur noch mit 30 Personen vertreten, die sich ausschließlich in der "Grünen Zone" aufhalten. Auch das Marionettenregime tagt innerhalb der "Grünen Zone". Internationale Hilfsorganisationen haben aufgrund der starken Unsicherheit ihre Tätigkeit eingestellt oder bereiten sich auf den Abzug ihrer Mitarbeiter vor.

Die offiziellen Schätzungen über die Zahl der Widerstandskämpfer wurden im Laufe dieses Jahres stark aufgestockt. Während amerikanische Stellen im November 2003 die Zahl 5000 als Obergrenze nannten, sind sie inzwischen bei mindestens 20.000 angekommen. Der britische Generalmajor Andrew Graham sagte dem amerikanischen Nachrichtenmagazin Time Anfang September, dass diese Schätzung immer noch viel zu niedrig sei und dass man von 40.000 bis 50.000 Kämpfern ausgehen müsse. Die New York Times zitierte am 31. August einen amerikanischen Kommandeur im Bereich der sunnitischen Stadt Baqubah, der den "harten Kern" der Unterstützer des bewaffneten Widerstands auf über 120.000 Personen schätzte.

Keine dieser Schätzungen beruht auf mehr als Hochrechnungen, indirekten Schlussfolgerungen aus der Zahl der Angriffe und freien Spekulationen, die oft stark politisch motiviert sind. Tatsächlich handelt es sich in einigen Städten und Gebieten nicht nur um eine mehr oder weniger große Zahl von Partisanen, sondern tendenziell um einen bewaffneten Volksaufstand, der auf sehr große Reserven zurückgreifen kann und der durch die militärische Repression der Besatzer bisher immer nur stärker statt schwächer geworden ist.

Irak-Krieg legt US-Armee weitgehend lahm

Die US-Armee hat seit Kriegsbeginn am 19. März 2003 rund 1.070 Tote verloren. Etwa 8.000 amerikanische Soldaten wurden verletzt, davon zwei Drittel so schwer, dass sie nicht mehr einsatzfähig sind. Über 90 Prozent der Verluste ereigneten sich in der Zeit seit dem 1. Mai 2003, als Präsident Bush sehr voreilig die Kampfhandlungen für im wesentlichen abgeschlossen erklärte. Damals war angenommen worden, die amerikanischen Streitkräfte im Irak innerhalb eines knappen halben Jahres vom Höchststand mit 150.000 Mann (Juli 2003) auf 50.000 oder gar 30.000 reduzieren zu können. Dieser vor allem von Verteidigungsminister Rumsfeld favorisierte Plan hätte bedeutet, dass sehr schnell Kräfte für weitere Aggressionen gegen Syrien und Iran frei geworden wären. Tatsächlich wurde die Truppenzahl aber nur bis auf 108.000 im Februar 2004 gesenkt und seither wieder erhöht. Im Irak sind derzeit 138.000 amerikanische Soldaten stationiert, die gerade auf 142.000 verstärkt werden. Sie werden durch 22.000 Briten, Polen und andere sogenannte Koalitionskräfte unterstützt. Hinzu kommen 20.000 "civil contractors", großenteils Mitarbeiter privater Sicherheitsunternehmen und ähnlicher Söldnerfirmen, die praktisch Polizei- und Militärtätigkeiten übernehmen.

Zum Kriegsdienst eingezogene Nationalgardisten machen fast ein Drittel der amerikanischen Truppen im Irak aus. Aufgrund der Rotation beläuft sich die Gesamtzahl der seit Beginn der Kriege in Afghanistan und Irak eingezogenen Nationalgardisten und Reservisten auf über 360.000. Viele von ihnen sind im Berufsleben Polizisten, Unfallhelfer oder Feuerwehrleute und fehlen jetzt in ihren Kommunen. Außerdem drückt die Aussicht, zu monatelangen Kriegseinsätzen im Irak, Afghanistan oder demnächst vielleicht auch anderen Ländern - die durchschnittliche Dienstzeit am Stück beträgt im Irak derzeit 320 Tage - abkommandiert zu werden, auf die künftige Bereitschaft, zur Armee zu gehen oder das Dienstverhältnis zu verlängern. Den Vereinigten Staaten dürfte daher in absehbarer Zeit eine Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht ins Haus stehen.

Auch finanziell stellt sich die Kriegsstrategie der USA als Fiasko ohne absehbares Ende dar. Wie die Washington Post am 26. Oktober meldete, will Bush nach der Wahl beim Kongress fürs nächste Jahr 70 Milliarden Dollar zusätzliche Mittel für die Kriegführung in Irak und Afghanistan beantragen. Die Gesamtkosten würden damit auf 225 Milliarden steigen. Die reinen Kriegskosten betrugen bisher 62,4 Milliarden im Jahr 2003 und 65 Milliarden im laufenden Jahr. Hinzu kommen weitere Milliarden unter anderem für militärische "Auslandshilfe", das heißt Ausrüstung, Ausbildung und Unterhalt der Marionettenarmeen in beiden besetzten Ländern. Eine Vergleichszahl: Die Kosten sämtlicher Auslandseinsätze der Bundeswehr im laufenden Jahr werden auf 1,05 Milliarden Euro beziffert - und veranlassen das Verteidigungsministerium zum Stöhnen. Im Irak würde das Geld kaum für eine Woche Krieg reichen.

Eine andere Zahl ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich: Wie die italienische Tageszeitung Repubblica am Montag meldete, sind von insgesamt 30 Milliarden Dollar, die von den USA und anderen Staaten für den Wiederaufbau Iraks versprochen wurden, bisher erst 1,5 Milliarden, also nur fünf Prozent, zweckentsprechend ausgezahlt und eingesetzt worden. Das ist wahrscheinlich weniger, als der Sturmangriff auf Falludscha kosten wird.

Knut Mellenthin
Junge Welt, 2. November 2004