KNUT MELLENTHIN

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Die westlichen Regierungen wollen trotz wachsenden Widerstands in Afghanistan und zunehmender Ablehnung des Krieges durch ihre eigene Bevölkerung den Abzug ihrer Besatzungstruppen nicht beschleunigen. Das war am Montag und Dienstag der Grundzug ihrer Reaktionen auf die Ermordung von 16 Afghanen durch einen oder mehrere US-Soldaten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel deutete bei einem Kurzbesuch im nordafghanischen Masar-i-Scharif am Montag sogar die Absicht an, das deutsche Militärkontingent über den für Ende 2014 vereinbarten Abzugstermin hinaus im Lande zu lassen. Indessen gab US-Präsident Barack Obama den in der NATO derzeit vorherrschenden Ton an, indem er in einem Radio-Interview vor einem „Wettlauf zu den Ausgängen“ warnte. Der Rückzug der westlichen Allianz aus Afghanistan solle nach dem 2010 in Lissabon beschlossenen Zeitplan, zugleich aber „in verantwortungsvoller Weise“ vor sich gehen. Diese Formel wird normalerweise so gebraucht und verstanden, dass sie Verzögerungen einschließt.

Bislang steht nur fest, dass im September 22.000 bis 30.000 amerikanische Soldaten abgezogen werden sollen. Das entspricht lediglich der von vornherein zeitlich befristeten Verstärkung, die Obama im November 2009 angeordnet hatte. Danach werden immer noch 68.000 Angehörige der US-Streitkräfte in Afghanistan bleiben. Es gibt bisher keinen öffentlich bekannten Zeitplan für weitere Reduzierungen. Festzustehen scheint lediglich, dass bis Ende 2014 alle Kampftruppen der NATO Afghanistan verlassen sollen. Aber auch danach sollen Tausende von US-amerikanischen Soldaten und Offizieren als „Ausbilder“ und „Berater“ im Lande bleiben. Die britische Regierung will sich dieser Taktik anschließen.

Ungewiss ist die Zukunft der afghanischen Sicherheitskräfte. Als Ausdruck ihrer angeblich erfolgreichen „Afghanisierungsstrategie“ hat die NATO in den vergangenen Jahren, besonders nach Obamas Amtsantritt 2009, deren Aufblähung auf demnächst 350.000 Mann erzwungen. Die notleidende Volkswirtschaft des Landes ist aber nicht einmal entfernt in der Lage, die Kosten dieses stehenden Heeres zu tragen. Auf der anderen Seite ist ungewiss, wie viele Jahre die NATO-Staaten die afghanische Armee noch finanzieren wollen. Es wird damit gerechnet, dass die Personalstärke nach 2014 drastisch heruntergefahren werden könnte – was allerdings große soziale Probleme zur Folge haben würde.

Unterdessen gab es am Dienstag in einigen Teilen Afghanistans Proteste gegen den Massenmord vom Sonntag. In der ostafghanischen Stadt Dschalalabad demonstrierten mehrere hundert Studenten unter Parolen gegen die USA und Obama. Am Ort der Bluttat, nahe der Stadt Kandahar, beschossen unbekannte Scharfschützen eine Regierungsdelegation, die an der Trauerfeier teilnehmen wollte.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 14. März 2012