KNUT MELLENTHIN

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Unter der sehr sicher scheinenden Überschrift „BND kannte Gaddafis Aufenthaltsort“ behauptet Der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe (24.10.2011): „Der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi ist am vergangenen Donnerstag offenbar mit deutscher Hilfe aufgespürt worden. Seit Wochen schon war dem Bundesnachrichtendienst (BND) der genaue Aufenthaltsort Gaddafis in dessen Heimatstadt Sirte am Mittelmeer bekannt. (…) Aus Sicherheitskreisen hieß es jedoch, es seien keine Geo-Daten mitgeteilt worden, die zu einem gezielten Angriff auf Gaddafi hätten führen können.“

Der BND ließ die vom Spiegel vorab verbreitete Meldung durch seinen Sprecher Dieter Arndt sofort dementieren: Der deutsche Auslandsgeheimdienst habe keineswegs gewusst, dass sich Gaddafi an diesem Tag überhaupt in Sirte aufhielt, sondern sei „selbst überrascht über den Auffindeort“ des libyschen Politikers gewesen. Daher seien auch die Schlussfolgerungen, die das Hamburger Nachrichtenmagazin aus seinem Bericht ziehe, falsch. Der Spiegel hatte spekuliert, dass „ein etwaiger BND-Handel mit Informationen über den monatelang gesuchten Diktator“ geeignet sein könnte, „politischen Schaden wiedergutzumachen“, der durch die deutsche Enthaltung bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat entstanden sei. Das Gremium hatte am 17. März eine Resolution verabschiedet, die von der NATO als Freibrief für eine massive militärische Intervention interpretiert wurde. Neben Deutschland hatten sich auch Russland, China, Indien und Brasilien der Stimme enthalten.

Das Wort „offenbar“ erfreut sich in deutschen Medien einer zunehmenden Beliebtheit, wenn es darum geht, einer durch keinerlei Tatsachen oder wenigstens Indizien belegten Behauptung eine hochgradige Wahrscheinlichkeit beizulegen. In Wirklichkeit ist der vom Spiegel gemeldete Sachverhalt durchaus nicht offenbar. Selbst das Wort „anscheinend“ wäre zu hoch gegriffen. Eine Quelle für das Gerücht wird nicht einmal angedeutet. Außerdem erscheint es eher unwahrscheinlich, dass Außenstehende den „genauen“ Aufenthaltsort Gaddafis gekannt haben könnten, da die Gruppe, in der sich befand, Berichten zufolge von Tag zu Tag ihren Standort innerhalb der Stadt änderte, um nicht entdeckt zu werden.

Dass der BND über Gaddafis Anwesenheit in Sirte informiert war, ist immerhin möglich, zumal genau dies in den Wochen, in denen um die Stadt gekämpft wurde, ohnehin eine vorherrschende Vermutung war. Selbst dass dem deutschen Nachrichtendienst die wechselnden Standorte Gaddafis bekannt waren, etwa durch einen V-Mann in der Gruppe, kann nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden. Äußerst unwahrscheinlich ist aber, dass die NATO irgendwelcher BND-Informationen bedurft hätte. Erstens dürften die vereinigten westlichen Dienste nicht schlechter im Bild gewesen sein als ihre deutschen Kollegen. Zweitens hätten die Kampfflugzeuge der NATO – im konkreten Fall sollen es französische Flieger gewesen sein – sicher jeden großen Fahrzeugkonvoi angegriffen, der Sirte zu verlassen versuchte, ob mit oder ohne Hinweise auf eine Anwesenheit Gaddafis.

Was jedoch außer Zweifel steht: Der Spiegel verbreitet seine Behauptung nicht etwa aus Scham und Empörung, dass deutsche Dienststellen bei einem abscheulichen Lynchmord behilflich gewesen sein könnten, sondern mit unverhohlenem Dummstolz, dass die Scharte der Stimmenthaltung nun ausgewetzt sein könnte. Wir sind wieder voll dabei.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 25. Oktober 2011