KNUT MELLENTHIN

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Hinsehen und Wegschauen

„Gleichgültigkeit ist keine Option“, verkündete Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der offenbar in seinem Leben viel zu oft auf der Reservebank sitzen musste, formulierte den gleichen Gedanken so: „Deutschland ist eigentlich zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren.“ Emotional sehr viel direkter hatte es Leyen schon kurz zuvor dem Spiegel gesagt: "Wir können nicht zur Seite schauen, wenn Mord und Vergewaltigung an der Tagesordnung sind.“ Was sie praktisch meinte, war die Entsendung deutscher Soldaten in afrikanische Bürgerkriegsgebiete.

Nun denn, schauen wir uns einmal um in den internationalen Nachrichten. Es gibt rund 200 Staaten. In etwa der Hälfte davon finden erhebliche Menschenrechtsverletzungen statt. In mehr als 30 Staaten werden die Übergriffe aufgrund ihrer Häufigkeit und Schwere von Menschenrechtsorganisationen als „sehr ernst“ eingestuft. In der Spitzengruppe liegen unter anderem Nigeria, Jemen, Myanmar (das frühere Burma), der Irak, Somalia, Pakistan, Kongo, der Sudan – um nur einige der möglichen kommenden Einsatzgebiete der Bundeswehr zu nennen.

Aber keine Angst: Es wird nicht einmal entfernt so schlimm werden. Denn weder Leyen noch Steinmeier oder Gauck meinen wirklich das, was sie sagen. Sie alle sind Meisterinnen und Meister im Wegschauen, wenn es um weltweite Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen geht. Kein deutscher Soldat muss derzeit befürchten, dass er nach Saudi-Arabien oder Pakistan geschickt wird, um Regierungen zu stürzen und Staaten zu destabilisieren. Deutschen Soldaten wird auch der Kampf gegen die dschihadistischen Massenmörder, Vergewaltiger und Folterer erspart bleiben, die auf saudische Rechnung aus aller Welt in Syrien zusammengeströmt sind.

„Mord und Vergewaltigung“ führen deutsche Regierungspolitikern nur als nützliche Propaganda-Versatzstücke ins Feld. In Wirklichkeit werden Auslandseinsätze der Bundeswehr auch künftig ausschließlich aufgrund politischer und wirtschaftlicher Interessen äußerst selektiv angeordnet.

Die große theatralische Pose, einfach nicht „wegschauen“ zu können, überkommt deutsche Regierungspolitiker ohnehin nur, wenn es um die Anwendung militärischer Gewalt geht. Es handelt sich also um bloße Heuchelei. Und zwar von der allerwiderlichsten Art, weil sie die Opfer instrumentalisiert. Emotionalität, menschliche Anteilnahme und vor allem schnelle, tatkräftige Hilfe fehlen immer da, wo nicht für Kriege geworben werden soll. So beispielsweise, als vor wenigen Jahren in Somalia Hunderttausende aufgrund einer außerordentlich langen Dürreperiode starben. Das sind im Zeitalter der modernen Technologie und Prognostik keine unberechenbaren Naturkatastrophen mehr, sondern vorauszusehende Abläufe. Rechtzeitige Hilfe hätte hunderttausenden Menschen, die überwiegende Mehrheit von ihnen kleine Kinder, das Leben retten können. Aber die, die angeblich nicht wegschauen können, taten genau das.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 3. Februar 2014