KNUT MELLENTHIN

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Straße in den Krieg

Deutsche Soldaten demnächst auch in Südafghanistan

Mitten im Winter will Deutschland in der südafghanischen Provinz Kandahar ein 4,5 Kilometer langes Stück Straße bauen lassen. Das gab die Bundesregierung am Freitag überraschend bekannt. Die Arbeiten sollen noch vor dem NATO-Gipfel beginnen, der am Dienstag und Mittwoch in der lettischen Hauptstadt Riga stattfindet. Die Straße soll laut Planung in etwa drei Monaten fertiggestellt sein. "Der Straßenbau solle den Beginn eines gezielten Ausbaus deutscher Entwicklungshilfe in Südafghanistan markieren. Mehrere andere Projekte würden geprüft", hieß es dazu am Sonnabend in der FAZ.

Ob die Jahreszeit und die äußeren Umstände wirklich günstig sind, um von einem Tag auf den anderen in einem der unsichersten Gebiete Afghanistans mit Tiefbauarbeiten zu beginnen? Aber das darf jetzt keine Rolle spielen, denn äußerste Eile ist geboten: Bundeskanzlerin Angela Merkel will in Riga schon mit dem Projekt punkten können. Damit will sie die immer lauter und offener werdenden Forderungen aus anderen NATO-Ländern nach Bereitstellung deutscher Soldaten für die offensive Aufstandsbekämpfung in Südafghanistan abwehren. Aber dass sie auf diese Weise die Kritik an der ungleichen Verteilung der Lasten zwischen den NATO-Partnern beschwichtigen kann, wird sie wohl selbst nicht glauben. Jüngstes Beispiel: Der dänische Verteidigungsminister Sören Gade hat am Wochenende die Weigerung der meisten NATO-Länder, sich an der militärischen Aufstandsbekämpfung zu beteiligen, als "unsolidarisch" verurteilt. Das sei "kein gutes Signal an das afghanische Volk und schadet der Glaubwürdigkeit der NATO".

Die NATO hat derzeit über 40.000 Soldaten in Afghanistan. Deutschland stellt mit 2.800 Mann zahlenmäßig das drittstärkste Kontingent hinter den USA (über 21.000) und Großbritannien (5.800). Es folgen Kanada (2.300), die Niederlande (fast 2.000), Italien (1.800) und Frankreich (knapp 1.000 Soldaten). Die offensive Aufstandsbekämpfung in den überwiegend von Paschtunen bewohnten Gebieten Süd- und Ostafghanistans, den früheren Hochburgen der Taliban, wird hauptsächlich von amerikanischen, britischen und kanadischen Soldaten getragen. Unterstützt werden sie von Niederländern und Dänen, die aber nur mit 390 Soldaten präsent sind. Die deutsche Bundeswehr ist im Norden des Landes und in der Hauptstadt Kabul stationiert, also in Gebieten, wo es so gut wie gar keine Aufstandstätigkeit gibt.

Bisher sind im laufenden Jahr in Afghanistan 120 NATO-Soldaten ums Leben gekommen, darunter kein Deutscher. Seit dem amerikanisch-britischen Überfall auf das Land im Oktober 2001 starben rund 500 westliche Soldaten. 346 (rund 70 Prozent) waren Amerikaner, 42 Kanadier und 41 Briten. Die deutsche Bundeswehr verlor in Afghanistan bisher 18 Mann, davon 12 bei Unfällen und keinen einzigen bei einem Kampfeinsatz.

Anfang September hatte der NATO-Kommandierende in Afghanistan, US-General James Jones, die Forderung nach 2.500 zusätzlichen Soldaten für den Süden angemeldet. Auf diese Weise sollen eine 1.000 Mann starke schnelle Eingreiftruppe gebildet und 1.500 Soldaten für Nachschub- und Unterstützungsaufgaben gewonnen werden. Militärexperten kommentierten das als eine Minimalforderung, die keineswegs dem absehbaren Bedarf entspreche.

Bisher hat sich lediglich Polen, das jetzt in Afghanistan nur ein symbolisches Kontingent von 100 Mann unterhält, bereit erklärt, im kommenden Februar 1.000 Soldaten nach Südafghanistan zu schicken. Die Lücke wird voraussichtlich auch beim Rigaer NATO-Gipfel nicht geschlossen werden können. Die Bundesregierung lehnt alle Anforderungen mit dem Argument ab, die deutschen Soldaten seien im Norden absolut unentbehrlich. Das sei nun einmal die innerhalb der NATO vereinbarte Aufgabenteilung, die nachträglich nicht geändert werden dürfe, weil sonst allergrößte Rückschläge für die wertvolle deutsche Aufbauarbeit im Norden zu befürchten seien.

Das Argument ist evident falsch: Durch die vor zwei Jahren getroffene, von Deutschland widerspruchslos mitgetragene Entscheidung der europäischen NATO-Staaten und Kanadas, die USA bei der offensiven Aufstandsbekämpfung in Süd- und Ostafghanistan zu unterstützen, wurde die alte Aufgabenverteilung hinfällig. Es war von vornherein vorauszusehen, dass dieser Schritt die verfügbaren Kräfte Großbritanniens, Kanadas und der Niederlande überfordern würde - und dass damit Forderungen auf die anderen NATO-Partner zukommen würden.

Das deutsche Straßenbau-Projekt wird die Kritiker nicht zum Verstummen bringen. Es könnte aber als bewusst gewählter Einstieg dienen, um deutsche Soldaten in den schmutzigen NATO-Krieg in Süd- und Ostafghanistan hineinzuziehen, der derzeit nur von US-amerikanischen, kanadischen, britischen und niederländischen Soldaten geführt wird.

In der Provinz Kandahar, für die die Kanadier zuständig sind, haben in diesem Jahr schwere Kämpfe stattgefunden. Der Bezirk Pandschwai, in den das Straßenstück hineinführen soll, gilt als besonders unsicher. Dort fand in der ersten Septemberhälfte die NATO-Offensive "Operation Medusa" statt. Nach offiziellen Angaben wurden dabei - bei eigenen Verlusten von nur fünf Mann - über 500 "Taliban" getötet. Überwiegend handelte es sich offenbar um schwach bewaffnete Dorfbewohner, die ihre Familien zu verteidigen versuchten. "Operation Medusa" soll als Modell einer neuen Form der Aufstandsbekämpfung dienen, bei der zunächst mit massiver militärischer Übermacht alle potentiellen Gegner vernichtet oder vertrieben werden, um dann mit spektakulären Aufbauprojekten "die Köpfe und Herzen der Menschen zu gewinnen.

Dass dies nur bedingt gelangen kann, zeigte sich gerade erst wieder am vergangenen Wochenende, als es im Bezirk Pandschwai mehrere Angriffe der Aufständischen gab. Der deutsche Straßenbau wird also bewaffneten Schutz erfordern. Wer soll diesen gewährleisten? Die ohnehin schon völlig überbeanspruchten kanadischen Truppen? Dort wird aus Personalnot darüber diskutiert, Kantinenköche und Schreibstuben-Leute in die Kampfeinheiten zu integrieren. Mehr als 60 Prozent der kanadischen Bevölkerung sind gegen den Krieg und möchten ihre Soldaten möglichst bald wieder zu Hause sehen. Kanadische, britische oder US-amerikanische Militärs haben wenig Lust, die "Dreckarbeit" allein zu machen, während deutsche Politiker mit ihren großartigen Aufbauarbeiten prahlen.

Was liegt also näher, als dass die NATO Deutschland demnächst ganz offiziell auffordern wird, den Schutz seiner Bauarbeiten gefälligst selbst zu übernehmen? Die Merkel-Regierung könnte mit dem Straßen-Projekt genau das beabsichtigt und vielleicht mit den NATO-Partnern sogar schon intern abgesprochen haben. Denn sie bekäme dadurch ein scheinbar zwingendes Argument gegenüber der deutschen Bevölkerung, die derzeit mit 82 Prozent Bundeswehr-Kampfeinsätze in Afghanistan ablehnt.

Möglich wäre, als erstes die 100 Mann des derzeit im Norden stationierten KSK ("Kommando Spezialkräfte", eine sogenannte Eliteeinheit) nach Kandahar zu schicken. Möglich wäre aber auch der Einsatz normaler Bundeswehrangehöriger. Waffengebrauch zur Selbstverteidigung ist durch den Einsatzauftrag gedeckt; ein grundsätzliches Mandat für zeitlich befristete Einsätze deutscher Soldaten in ganz Afghanistan hat der Bundestag schon im Herbst 2005 abgesegnet. "In internen Planspielen wird nicht ausgeschlossen, bis zu zwei Kampfbataillone mit mehr als 1.000 Soldaten in den afghanischen Süden zu schicken", wusste der "Spiegel" schon am 13. November.

Dass man Bundeswehreinheiten von einem Tag auf den anderen zu offensiven Boden-Kampfeinsätzen heranziehen könnte, in denen sie nicht die geringste Erfahrung haben, glaubt ohnehin niemand in der NATO, und darum geht es im Moment auch gar nicht. Es geht um Schritte, durch die deutsche Soldaten allmählich, aber planmäßig und zwangsläufig in bewaffnete Konfrontationen hineingezogen werden. "Die Deutschen müssen das Töten lernen", wie der Titel des "Spiegel" am 20. November lautete. Dafür könnte das Projekt im Bezirk Pandschwai einen idealen Rahmen bieten.

Mit dem Schutz des Straßenbaus ließe sich vielleicht sogar der Einsatz deutscher Kampfflugzeuge über Südafghanistan rechtfertigen. Wie der "Spiegel" am 20. November berichtete, gibt es im Verteidigungsministerium Überlegungen, sechs RECCE-Tornado-Jets des Aufklärungsgeschwaders "Immelmann" mit etwa 250 Mann Bodenpersonal nach Afghanistan zu schicken. Sie sollen zwar auf dem deutschen Stützpunkt Masar-i-Scharif im Norden stationiert werden, aber Luftaufklärung über den Kampfgebieten im Süden und Osten des Landes leisten. Mit dem Schutz des deutschen Straßenbaus vor überraschenden Angriffen ließe sich das am Anfang relativ glaubwürdig bemänteln. Später könnten dann immer weitere Aufgaben hinzu kommen. Auch Kampfeinsätze, denn die Aufklärer-Version des Tornado ist mit zwei Bordkanonen ausgestattet.

Knut Mellenthin

(Erweiterte Fassung des Artikels, "Straße in den Krieg", Junge Welt", 27. November 2006)