KNUT MELLENTHIN

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UNO immer parteiischer

In Westafrika hat die "internationale Gemeinschaft" einen Kriegsverbrecher an die Macht geschossen. Welle von UN-mandatierten Militärinterventionen seit 1992.

Französische Kampfhubschrauber und Panzerfahrzeuge, unterstützt von der UN-Mission UNOCI, haben am Montag den Machtkampf in Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste) entschieden. Ob es am Ende auch französische Soldaten waren, die den bisherigen Präsidenten Laurent Gbagbo in seiner stark befestigten Residenz gefangen nahmen, oder ob sie nur den Weg für die Milizionäre von Gbagbos Gegner Alassane Ouattara freischossen, ist umstritten und nach den bisherigen Berichten nicht eindeutig auszumachen. Tatsache ist, dass Gbagbo als Gefangener in das Hauptquartier seines Widersachers abtransportiert wurde. Erinnerungen werden wach an das Jahr 1960, als die UNO den kongolesischen Regierungschef Patrice Lumumba in die Hände seiner Feinde spielte, die ihn schließlich im Januar 1961 ermordeten.

Frankreich und die UNO, repräsentiert durch ihren Generalsekretär Ban Ki-mun, haben mit ihrem militärischen Handstreich einem Kriegsverbrecher zur Macht verholfen. Seit voriger Woche nahmen die Berichte über grausame Massaker zu, die die Milizen von Ouattara bei ihrem raschen Vormarsch aus dem Norden auf die bedeutendste Stadt des Landes, Abidjan, begangen haben. Das bezeugen ein umfangreicher Bericht der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, aber auch Untersuchungen des Internationalen Roten Kreuzes und des Menschenrechtsbüros der Vereinten Nationen. Das 13 Seiten lange Papier von HRW, das sich hauptsächlich auf Gespräche mit geflüchteten Überlebenden stützt, ist unter http://allafrica.com/stories/201104100002.html im Internet zu finden. Die Erkenntnisse des UN-Büros beruhen auf der Untersuchung mehrerer Massengräber, die inzwischen gefunden wurden. Die Opfer waren zum Teil mit Macheten zerhackt, lebendig verbrannt oder in Brunnen geworfen worden. Zahlreiche Dörfer und Kleinstädte wurden geplündert und niedergebrannt. Wer nicht rechtzeitig flüchten konnte, vor allem Alte und Kranke, wurde ermordet. Viele Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt. Mehr als eine Million Menschen befinden sich innerhalb von Côte d’Ivoire auf der Flucht, 125.000 haben sich über die Grenze nach Liberia gerettet.

Zwar konstatieren die Berichte, dass Verbrechen von beiden Bürgerkriegsparteien begangen wurden. Einig sind sie sich aber darin, dass die meisten Taten auf das Konto von Ouattaras Milizen und seiner liberianischen Söldner gehen. Sie richteten sich hauptsächlich und ganz gezielt gegen eine ethnische Gruppe, die überwiegend auf der Seite von Laurent Gbagbo steht. Der Sieg von Ouattaras Milizen bedeutet für Hunderttausende fortdauernde Gefahr.

Aber der frühere Manager des Weltwährungsfonds (IMF) mit mehreren Studienabschlüssen in den USA hat einen wichtigen Bonus: In diesem Bürgerkrieg ist er für die „internationale Gemeinschaft“ und ganz besonders für den Westen der Gute. Die UNO sieht in ihm den rechtmäßigen Präsidenten des Landes und hat deshalb den blutigen Vormarsch seiner Milizionäre und Söldner auf Abidjan wohlwollend und passiv beobachtet, obwohl es schon länger solide Hinweise auf massenhafte Kriegsverbrechen gab. Die EU hatte Ouattara noch vor seinem Sieg mitgeteilt, dass sie die gegen Côte d’Ivoire verhängten Sanktionen in Kürze aufheben will. Im Irak hatte das nach dem Sturz Saddam Husseins mehrere Jahre gedauert.

Waffen der Verteidiger "neutralisieren"

Freilich, das Mandat der UN-“Friedensmission“, das zuletzt durch die am 30. März einstimmig durchgewunkene Resolution 1975 erneuert wurde, verpflichtet die Blauhelme in Punkt 6 dazu, „alle erforderlichen Mittel anzuwenden, um (…) Zivilisten zu schützen, die sich unter der unmittelbaren Drohung physischer Gewalt befinden“. Die Entschließung macht jedoch, wie schon ihre Vorgängerinnen, die seltsame Einschränkung, dass diese Verpflichtung nur „im Rahmen ihrer Kapazitäten und in ihren Stationierungsgebieten“ besteht. Stationierungsgebiet ist anscheinend hauptsächlich oder ausschließlich Abidjan. Die Resolution hebt außerdem als einzigen konkreten Punkt zum Schutz der Bevölkerung hervor, „den Einsatz von schweren Waffen gegen Zivilisten zu verhindern“. Die spielten in der Tat bei den Massenmorden von Ouattaras Milizen keine große Rolle.

In der Praxis ging es nur darum, Gbagbos Truppen daran zu hindern, gegen ihre Gegner Artillerie und Panzer einzusetzen, über die diese aber ebenfalls verfügen. So sprach UN-Generalsekretär Ban Ki-mun in einer am 4. April abgegebenen Erklärung nicht von den tatsächlichen Kriegsverbrechen, über die es zu dieser Zeit schon viele glaubwürdige Informationen gab. Stattdessen behauptete er, wofür jedoch die Beweise fehlten, dass Gbagbos Streitkräfte „ihren Einsatz von schweren Waffen wie Mörsern, Panzerfäusten und Maschinengewehren gegen die Zivilbevölkerung in Abidjan intensiviert und ausgeweitet“ hätten. Über die Gegenseite verlor er in diesem Zusammenhang kein Wort. Auf ausdrückliche Anweisung Ban Ki-muns flogen Kampfhubschrauber der UNOCI und der französischen Streitkräfte schon am Sonntag heftige Angriffe gegen das Hauptquartier von Gbagbo und seine Truppen, die ganz offen damit begründet wurden, dass man „ihre schweren Waffen neutralisieren“ wolle.

Bürgerkrieg seit acht Jahren

Die erbitterten Machtkämpfe in Côte d’Ivoire begannen schon mit dem Tod von Präsident Félix Houphouët-Boigny im Dezember 1993. Dreißig Jahre lang, seit Erklärung der Unabhängigkeit 1960, hatte er das Land mit einem autoritären Einparteiensystem regiert. Bei der ersten Präsidentenwahl 1990 kam er auf fragwürdige 82 Prozent. Für seinen Gegenkandidaten Gbagbo wurden nach offizieller Zählung 18 Prozent der Stimmen abgegeben. Im Jahr 2000 schließlich wurde Gbagbo doch noch ins Präsidentenamt gewählt. Seit 2005 war er genau genommen nur noch geschäftsführendes Staatsoberhaupt: Die in jenem Jahr fällige Wahl ließ er unter wechselnden Vorwänden insgesamt sechs Mal verschieben.

Seit einer Meuterei von Teilen der Streitkräfte im September 2002 befindet sich Côte d’Ivoire fast ununterbrochen im Bürgerkrieg. Mit der Resolution 1528 beschloss der UN-Sicherheitsrat am 27. Februar 2004 erstmals die Aufstellung der „Peacekeeping“-Mission UNOCI und legte deren Höchstgrenze auf insgesamt 6.240 Soldaten fest. Inzwischen liegt sie bei 11.142 Mann. Wirklich im Einsatz waren Ende Februar nach offiziellen Angaben 7.568 Soldaten, 177 Militärbeobachter und 1.317 Polizisten.

UNOCI löste eine sehr viel kleinere Mission von Militärbeobachtern (MINUCI) ab, die einen Anfang Mai 2003 geschlossenen Waffenstillstand zwischen den Bürgerkriegsparteien überwachen sollte. Im Licht der aktuellen Ereignisse ist es nicht ohne Ironie, dass in der Resolution 1528 ausdrücklich auf eine entsprechende Bitte von Präsident Gbagbo hingewiesen wurde. Diese Entschließung enthielt, wie alle folgenden, die Behauptung, dass die Lage in Côte d’Ivoire eine „Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit in der Region“ darstelle. Mit dieser seit Anfang der 1990er Jahre immer häufiger, inzwischen rein mechanisch angewendeten Floskel pflegt sich der UN-Sicherheitsrat zur Anwendung und Legitimierung von militärischer Gewalt zu ermächtigen. Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, dass der Rat alle die Elfenbeinküste betreffenden Resolutionen einstimmig und ohne Enthaltungen verabschiedet hat.

Resolution 1528 – ebenso wie alle seither gefolgten - verpflichtete UNOCI zur engen Zusammenarbeit mit den seit 2002 im Land stationierten französischen Truppen. Zugleich „autorisierte“ sie erstmals in Punkt 16 ausdrücklich und umfassend deren Einsatz. Eine zahlenmäßige Obergrenze wurde dabei nicht festgelegt. Angeblich befinden sich derzeit – abgesehen von der Beteiligung an ONUCI – 1650 französische Soldaten in Côte d’Ivoire. Laut Resolution 1528 und ihren Nachfolgerinnen sollen sie zum einen die UNOCI auf deren Bitte hin unterstützen. Die Franzosen sind aber darüber hinaus vom UN-Sicherheitsrat ermächtigt, außerhalb der direkt von UNOCI kontrollierten Gebiete völlig autonom „gegen kriegerische Aktionen vorzugehen, wenn die Sicherheitsbedingungen es erfordern“. Das ist ebenso wie die „Hilfe beim Schutz von Zivilisten“, zu der die französischen Soldaten seit Resolution 1528 autorisiert sind, sehr weit interpretierbar.

Wie Paris diese Vollmacht auslegt, zeigte sich erstmals im November 2004: Nachdem bei einem Gefecht neun französische Soldaten getötet worden waren, zerstörten Kampfhubschrauber die gesamte kleine Luftwaffe von Côte d’Ivoire am Boden und führten gemeinsam mit UNOCI weitere „Vergeltungsangriffe“ gegen die Streitkräfte des Landes durch. Der UN-Sicherheitsrat applaudierte oder, wie es offiziell hieß, „drückte seine volle Unterstützung“ für das französische Vorgehen aus. Völlig überraschend kommt also das derzeitige Verhalten des Rates nicht.

Die jetzt scheinbar abgeschlossene Konfrontation ist eine Folge der Präsidentenwahl, die am 31. Oktober und 28. November 2010 schließlich doch noch stattfand. Die Wahlkommission erklärte Ouattara zum Sieger, während der oberste Verfassungsrat rund 10 Prozent der Stimmen aus dem von Ouattara beherrschten Norden wegen angeblicher Verstöße annullierte und Amtsinhaber Gbagbo als Gewinner ausrief. Aufgrund der überwiegenden Einschätzungen ausländischer Beobachter erkannte die gesamte „internationale Gemeinschaft“ - unter anderem die Afrikanische Union, die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS, der UN-Sicherheitsrat und die EU – Ouattara als rechtmäßigen neuen Präsidenten der Elfenbeinküste an. AU und ECOWAS suspendierten bis zu einem Nachgeben Gbagbos die Mitgliedschaft des Landes.

Genau betrachtet legitimierte die am 30. März vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete Resolution 1975 dennoch kein parteiisches Eingreifen in den Bürgerkrieg und keine militärische Mithilfe beim angestrebten Sturz von Gbagbo. Genau das legt sie aber durch ihre totale Einseitigkeit sehr nahe. So ruft sie in Punkt 1 „alle Parteien“ auf, die Wahl von Ouattara zum Präsidenten zu akzeptieren, fordert in Punkt 3 den sofortigen Rücktritt Gbagbos, und appelliert in Punkt 4 „dringend“ an „alle Staatsinstitutionen von Côte d’Ivoire, einschließlich der Verteidigungs- und Sicherheitskräfte“, die Autorität von Ouattara anzuerkennen, also zu ihm überzulaufen. Erst an sechster Stelle erschien der Schutz der Zivilbevölkerung. Außerdem wurden mit dieser Resolution Sanktionen – Reiseverbot und Vermögensbeschlagnahmung - gegen Gbagbo, seine Ehefrau und einige Personen seiner Umgebung verhängt. Die UN-Mission, verbunden mit dem vom Sicherheitsrat gar nicht kontrollierten, aber pauschal „autorisierten“ Vorgehen der französischen Truppen bekam auf diese Weise schon von ihrer Ausgangslage her den Charakter einer Strafexpedition zur Durchsetzung des angeblich legitimen Wahlergebnisses.

Angesichts des geringen Unterschiedes zwischen den Angaben beider Seiten zum Wahlergebnis war dieses Vorgehen der „internationalen Gemeinschaft“ evident irrational und kontraproduktiv. Nach den international anerkannten Zahlen hat Ouattara mit 54,1 gegen 45,9 Prozent gewonnen. Nach dem Urteil des Verfassungsrates läge Gbagbo mit 51,45 gegen 48,55 Prozent vorn. In jedem Fall ist offensichtlich, dass beide Kontrahenten eine annähernd gleich große und sehr starke Anhängerschaft haben, die sich zudem regional konzentriert und auch eine ethnische Polarisierung widerspiegelt. Vor diesem Hintergrund hätte die „internationale Gemeinschaft“ sich für versöhnende und diplomatische Maßnahmen einsetzen müssen, statt Ouattara durch total einseitige politische und militärische Unterstützung zu dem blutigen Mord- und Verwüstungsmarsch seiner Truppen gegen Gbagbos Hochburg Abidjan zu ermutigen. Wenn der Sieger jetzt von „Versöhnung“ spricht und gleichzeitig einen „fairen Prozess“ gegen seinen Gegner ankündigt, lässt das voraussehen, dass er die Verbrechen seiner eigenen Milizen unter den Teppich kehren will.

Pflicht zur Intervention

Parteiliche Einmischung in Bürgerkriege und gar die militärische Erzwingung von „Regimewechseln“ ist eigentlich nicht der Zweck der Vereinten Nationen und steht genau genommen sogar in Widerspruch zu ihren Grundsätzen. In fast fünf Jahrzehnten zwischen ihrer Gründung 1945 und den frühen 1990er Jahren intervenierte die UNO nur ein einziges Mal in einen Bürgerkrieg. Es war dies die erstmals am 14. Juli 1960 durch die Resolution 143 mandatierte Mission im Kongo unter dem Kürzel ONUC. Diese Entschließung wurde bei Enthaltung Frankreichs, Großbritanniens und Chinas – das damals noch durch Taiwan repräsentiert wurde – angenommen. In der Hauptsache sollte ONUC dazu dienen, die Abspaltung der rohstoffreichen Provinz Katanga von der gerade erst unabhängig gewordenen Republik Kongo zu beenden. Diese Sezession war massiv von imperialistischen Interessen beeinflusst und stützte sich auf ausländische Söldner, die von westlichen Konzernen bezahlt wurden. Mit einer maximalen Einsatzstärke von fast 20.000 Mann und einer Dauer von vier Jahren war ONUC jahrzehntelang das größte militärische Unternehmen der Vereinten Nationen. Mit einigen Einschränkungen kann man sagen, dass es sich weniger um Einmischung in einen Bürgerkrieg als vielmehr um die Unterstützung der Souveränität und Integrität Kongos gegen eine neokolonialistische Aggression handelte.

Die Phase des aktuellen Interventionismus der UNO begann Anfang der 1990er Jahre, nach dem erklärten „Ende des kalten Krieges“ und der Auflösung der Sowjetunion. Der erste praktische Fall war das militärische Eingreifen in den somalischen Bürgerkrieg, das mit der am 3. Dezember 1992 beschlossenen Resolution 794 begann. Zwar hatte es schon seit April 1992 eine bis zu 3.500 Mann starke Mission (UNOSOM I) gegeben, die aber noch keinen expliziten Kampfauftrag hatte. Mit Resolution 794 autorisierte der Sicherheitsrat alle interessierten Staaten, „sämtliche notwendigen Mittel anzuwenden, um in Somalia so bald wie möglich ein sicheres Umfeld für humanitäre Hilfsaktionen zu schaffen“.

Real ging es bei diesem Ratsbeschluss darum, eine längst geplante und vorbereitete massive Intervention unter Führung der USA abzusegnen, die am 9. Dezember 1992 unter dem verführerischen Titel „Operation Recover Hope“ (Die Hoffnung zurückgewinnen) begann. Beteiligt waren daran 30.000 Soldaten, überwiegend aus den Vereinigten Staaten. Formal wurde dieses Unternehmen später durch die am 26. März 1993 mit Resolution 814 mandatierte UN-Mission UNOSOM II abgelöst. Vorangetrieben von der US-Regierung, aber einstimmig unterstützt vom Sicherheitsrat, versuchte diese „Friedenstruppe“ zwischen Juni und Oktober 1993, gewaltsam die Entwaffnung der konkurrierenden Milizen zu erzwingen, wobei sie sich in parteiischer Weise hauptsächlich gegen eine von ihnen richtete. Da diese starken Rückhalt in der Bevölkerung hatte, kam es mehrfach zu Schusswaffen-Einsätzen der UN-Truppen gegen unbewaffnete Demonstranten mit sehr vielen Toten. UNOSOM II endete mit einem humanitären und politischen Fiasko. Im März 1995 wurde die Mission vorzeitig und überstürzt beendet, ohne ihre Ziele erreicht zu haben.

Gleichzeitig autorisierte der UN-Sicherheitsrat auch eine immer stärkere militärische Einmischung in den jugoslawischen Bürgerkrieg, vor allem in der Teilrepublik Bosnien-Hercegovina. Wichtigstes formales Mittel war neben der Verhängung eines Flugverbots (erstmals durch Resolution 781 vom 9. Oktober 1992) die Deklarierung sogenannter sicherer Zonen. Diese begann mit der am 16. April 1993 einstimmig verabschiedeten Resolution 819, die sich nur auf Srebrenica und Umgebung bezog. Durch die gleichfalls einstimmig beschlossene Resolution 824 vom 6. Mai 1993 wurde das System auf fünf weitere Städte, darunter Sarajewo, ausgedehnt. Mit Resolution 836 vom 4. Juni 1993 ermächtigte der Sicherheitsrat bei Enthaltung Pakistans und Venezuelas, aber ohne Gegenstimme die „Friedenstruppe“ UNPROFOR, zum Schutz der sechs Städte militärische Mittel anzuwenden. Indessen gingen die in der Folge praktizierten kriegerischen Aktionen gegen die Serben im Wesentlichen nicht von UNPROFOR, sondern von der gleichfalls durch den Sicherheitsrat dazu autorisierten NATO aus.

Neben dem Massaker an mehreren tausend Männern und männlichen Jugendlichen nach der Einnahme Srebrenicas durch serbische Milizionäre (Juli 1995) war es vor allem der Massenmord ruandischer Hutus an der Volksgruppe der Tutsis zwischen April und Juni 1994, der eine breite Bresche für die Propaganda weltweiter „humanitärer Interventionen“ schlug. Nach vorherrschenden Schätzungen wurden damals in Ruanda rund 800.000 Menschen unter meist barbarischen Umständen getötet, darunter auch mehrere zehntausend Hutus, die von den extremistischen Milizionären als „Tutsi-Freunde“ angesehen wurden.

Vor allem aus dem Massenmord in Ruanda beziehen die Befürworter eskalierender Kriegseinsätze der NATO das moralische Pathos für ihren Appell, der Westen dürfe nicht „tatenlos zusehen“, sondern müsse mit aller Gewalt „Leben schützen“. Ob das in Ruanda überhaupt rechtzeitig und in großem Umfang möglich gewesen wäre, ist fraglich. Ganz sicher konnte es nicht von der damals dort stationierten UN-Truppe geleistet werden, die nur über kaum 3.000 Soldaten und Militärbeobachter verfügte. Vollends aussichtslos wäre eine „humanitäre Intervention“ in einem Land wie Kongo, das sechs Mal so groß ist wie Deutschland. In den seit 1960 fast ununterbrochen geführten kongolesischen Bürgerkriegen sind über fünf Millionen Menschen ums Leben gekommen, ganz überwiegend Nicht-Kombattanten. Die einzige wirkliche humanitäre Intervention, die dagegen nachhaltig helfen könnte, wäre der Einsatz aller verfügbaren wirtschaftlichen, finanziellen, politischen und diplomatischen Mittel, um den Zustand permanenten Bürgerkriegs zu beenden. Ähnliches gilt für eine Reihe anderer Länder Afrikas, darunter eben auch Côte d’Ivoire.

Trotzdem scheint sich der UN-Sicherheitsrat weiter in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen, indem er immer mehr direkte militärische Einmischungen, häufig unter Führung oder Beteiligung der NATO, mandatiert, autorisiert und legitimiert. Mit der einstimmigen Annahme der Resolution 1674 am 28. April 2006 hat sich der Rat die Doktrin der Responsibility to Protect zu eigen gemacht, die nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zu „humanitären“ Militärinterventionen proklamiert. Kern dieser Resolution ist der Punkt 4, in dem die Paragraphen 138 und 139 einer Entschließung der UN-Vollversammlung vom 15. September 2005 bestätigt werden. Dort wurde als „Verantwortung der internationalen Gemeinschaft“ definiert, auch mit militärischen Mitteln einzugreifen, wenn Staaten nicht willens oder in der Lage sind, „ihre Bevölkerung vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen“. Dass dieser „Verpflichtung“ aber aus vielerlei Gründen, unter anderem machtpolitischer und technischer Natur, nur sehr selektiv nachgekommen wird und dass dabei in erster Linie wirtschaftliche und militärstrategische Interessen ausschlaggebend sind, liegt auf der Hand.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 12. April 2011