KNUT MELLENTHIN

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Wurde der Bundestag getäuscht? Oder wollte er getäuscht werden?

Ein Brief an Gregor Gysi

Lieber Gregor Gysi
Deine Pressemitteilung vom 27. Oktober zum deutschen Marine-Einsatz im Rahmen der UN-SC-Resolution 1701 habe ich mit Erstaunen und Unverständnis gelesen. Gilt für den Deutschen Bundestag nicht auch, dass Unwissenheit nicht vor Strafe schützt?

Das Nachrichtenmagazin Focus meldete am 27. Oktober:
"Nach einem der Nachrichtenagentur dpa vorliegenden vertraulichen Papier des Verteidigungsausschusses wurden die internationalen Verhandlungen über das Mandat erst am 12. Oktober abgeschlossen. Der Bundestag hatte dem Einsatz von bis zu 2400 deutschen Soldaten bereits am 20. September zugestimmt."

Der heißt, der Bundestag hat offenbar einem Mandat zugestimmt, das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht exakt definiert war, sondern erst drei Wochen später vereinbart wurde. War das den Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht bekannt, oder hat die Mehrheit einfach blind beschlossen, ohne es genauer wissen zu wollen? Ich vermute Letzteres. Und scharf nachgefragt hat zu diesem Zeitpunkt niemand? Auch du nicht?

Dass es mit der Konkretisierung und praktischen Umsetzung der UN-SC-Resolution 1701 vom 11. August eine ganze Reihe von großen Problemen geben würde, war schon bei deren Verabschiedung völlig klar. Sicher habt ihr in der Fraktion einige Kolleginnen und Kollegen, die diese Debatte in den Medien verfolgt haben und denen die wesentlichen Streitpunkte bekannt waren.

Ich schicke dir eine Focus-Meldung vom 7. September, fast zwei Wochen vor der entscheidenden Bundestagssitzung, mit. Unter der Überschrift "Libanon verbietet Schiffsrazzien" konnte man dort lesen:

"Die libanesische Regierung will den Deutschen das Durchsuchen von verdächtigen Schiffen vor der Küste jeweils genehmigen und keine eigenständigen Kontrollen erlauben. (...)
In der Koalition gibt es Differenzen, ob der geplante Bundeswehr-Einsatz zur Eindämmung des Waffenschmuggels in den Libanon unter solchen Bedingungen möglich ist. SPD-Fraktionschef Peter Struck warb entgegen früheren Äußerungen dafür, sich der libanesischen Forderung zu beugen, nur außerhalb einer Sechs-Meilen-Zone zu patrouillieren. Dagegen äußerten Unionspolitiker und der Bundeswehrverband massive Bedenken gegen diese Vorbedingung. (...)
In Beirut hatte Transportminister Mohammed Safadi am Donnerstag der Nachrichtenagentur dpa die gewünschten Einschränkungen erläutert: 'Die Deutschen werden nur dann eingreifen, um die Schiffe anzusehen, wenn sie von der libanesischen Armee darum ersucht werden.' Zwischen beiden Seiten müsse es eine enge Kooperation geben."

Das Wissen, dass die libanesische Regierung nicht bereit war, der deutschen Kriegsmarine in ihren Gewässern absolute Handlungsfreiheit einzuräumen, konnte man demnach am 20. September bei den Fraktionen des Deutschen Bundestages voraussetzen. Die libanesische Regierung muss das auch keineswegs, wenn man die UN-SC Resolution 1701 betrachtet. Dieser Text, um dessen exakte Formulierungen tagelang gehandelt und gerungen wurde, sieht nicht etwa die Verhängung einer Blockade gegen Libanon vor, sondern appelliert lediglich an die Regierung in Beirut, "to secure its borders and other entry points to prevent the entry in Lebanon without its consent of arms or related materiel". Die Rolle der UNIFIL, also auch der deutschen Kriegsmarine, besteht der Resolution zufolge lediglich darin, "to assist the Government of Lebanon at its request".

Falls wirklich Bundestagsabgeordnete, trotz dieser eindeutigen, international vereinbarten Ausgangslage, am 20. September ihr "Ja" mit der Illusion verbunden haben, "unsere Jungs" könnten in den libanesischen Gewässern nach eigenem Gutdünken operieren, als lebten wir noch zur Zeit von Kaiser Wilhelm Zwo, müssen sie für ihre Ignoranz selbst die Verantwortung tragen.

Knut Mellenthin, 29. Oktober 2006

Gregor Gysis Pressemitteilung vom 27. Oktober 2006

Nach Lüge zum Libanon-Einsatz sind Konsequenzen nötig

Zur inzwischen aus der Koalition bestätigten Vorspiegelung falscher Tatsachen über den Bundeswehr-Einsatz vor der libanesischen Küste im Zusammenhang mit der entsprechenden Abstimmung des Bundestages erklärt der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Gregor Gysi:

Der Bundestag hat unter Vorspiegelung falscher Tatsachen über den Einsatz der Bundeswehr im Nahen Osten entschieden. Er wurde belogen. Die Bundeskanzlerin und der Bundesverteidigungsminister haben erklärt, dass die Angehörigen der Marine vor der Küste Libanons auf der Grundlage der UN-Resolution selbständig entscheiden, wie sie agieren. Inzwischen ist herausgekommen, dass der Libanon hinsichtlich der ersten sechs Seemeilen bestimmt, was deutsche Boote zu tun und zu lassen haben. Tatsächlich soll es so sein, dass libanesische Offiziere auf den Schiffen sind und entscheiden, welches Schiff gestoppt und kontrolliert werden darf und welches nicht.

Es ist unerheblich, ob man diese Variante als Ausdruck der Souveränität des Libanons begrüßt oder aber die Einschränkung für die Marine kritisiert. Entscheidend ist, dass ein Parlament nicht belogen werden darf. Die Zustimmung zum Nahost-Einsatz erfolgte unter falschen Voraussetzungen.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder wurden die Bundeskanzlerin und der Bundesverteidigungsminister belogen, dann müssen sie erklären durch wen und wie oder aber, sie haben selbst gelogen, dann müssen sie auch die Konsequenzen ziehen.

Unabhängig davon muss der Bundestag so schnell wie möglich noch einmal in der Frage entscheiden, weil er bislang unter falschen Voraussetzungen entschieden hat.