KNUT MELLENTHIN

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Balfour-Declaration: Vor 100 Jahren startete Britannien einen bis heute nicht gelösten Konflikt

Im vierten Jahr des ersten Weltkriegs, am 9. November 1917, wurde ein Brief veröffentlicht, mit dem die britische Regierung ihre Unterstützung für die Schaffung einer jüdischen „nationalen Heimstätte“ in Palästina versprach. Als der Völkerbund – der Vorläufer der UNO - 1922 das britische Mandat über Palästina bestätigte, übernahm er die im Brief enthaltenen Aussagen wörtlich in die Präambel des Mandatsauftrags. Damit erhielt die jüdisch-zionistische Präsenz in Palästina erstmals einen völkerrechtlich garantierten Status. Das Dokument, das an sich juristisch irrelevant war, da England zu diesem Zeitpunkt nicht über das betreffende Gebiet verfügte, wurde unter dem Namen Balfour Declaration bekannt. Weil sie auf den 2. November 1917 datiert war, wird der Vorgang im Allgemeinen mit diesem Tag verbunden.

Der Brief hat insgesamt folgenden Wortlaut: "Lieber Lord Rothschild, mit großem Vergnügen teile ich Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät folgende Erklärung der Sympathie mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen mit; sie wurde dem Kabinett vorgelegt und von diesem gebilligt: ,Die Regierung Seiner Majestät begünstigt die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina; sie wird sich nach besten Kräften dafür einsetzen, das Erreichen dieses Ziels zu fördern. Dabei ist klar, dass nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nicht-jüdischer Gemeinschaften in Palästina oder was die Rechte und den politischen Status, die die Juden in anderen Ländern haben, gefährden könnte.' - Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Deklaration der Zionist Federation zur Kenntnis bringen würden."

Unterzeichner war der britische Außenminister Arthur James Balfour. Als Premierminister hatte er in den Jahren 1902-04 mit den damals noch von Theodor Herzl geführten Zionisten über die Bildung einer jüdischen Kolonie auf britischem Territorium gesprochen. Damals war es um ein Gebiet in Ostafrika (genannt Uganda, nicht genau identisch mit dem heutigen Staat) oder in Ägypten im Grenzbereich Palästinas gegangen. Balfour bezeichnete sich gern als Zionisten, was jedoch emotional übertrieben war.

Die Billigung der Deklaration durch das Kriegskabinett war am 31. Oktober 1917 erfolgt, nachdem im September und Anfang Oktober eine Beschlussfassung wiederholt gescheitert war. Das hatte unter anderem und zuletzt wohl hauptsächlich an den Einsprüchen des Staatssekretärs für Indien, Edwin Montagu, gelegen. Als etablierter Jude fürchtete er, die Ausrufung einer "Heimstätte für das jüdische Volk" im Nahen Osten könnte den Status der Juden in Großbritannien und überall auf der Welt gefährden.

Die Balfour Declaration war an die Zionist Federation gerichtet, also nicht an die Zionistische Weltorganisation - die durch den Krieg de facto gespalten und handlungsunfähig war -, sondern an deren britischen Landesverband. Der direkte Adressat war jedoch Lionel Walter Rothschild, das Oberhaupt des Londoner Zweigs der großen jüdischen Bankiersfamilie. Er sollte nicht verwechselt werden mit einem früheren Förderer des Zionismus, Edmond de Rothschild vom französischen Familienzweig, dessen finanzielle Unterstützung seit Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts einen Großteil der ersten jüdischen „Kolonien“ in Palästina am Leben gehalten hatte.

Warum adressierte der Außenminister seinen Brief an Lord Rothschild? Dieser hatte in den Diskussionen, Kontakten und Verhandlungen, die schließlich zur Deklaration führten, eine zentrale Rolle gespielt. Dabei hatte er jedoch immer die führende Rolle des Präsidenten der Federation, Chaim Weizmann - später erster Präsident Israels -, respektiert und betont. Hinter der Adressierung der Deklaration an Lord Rothschild stand vermutlich der Wunsch beider Seiten, das zionistische Projekt durch die Verbindung mit dem Namen der international bekanntesten jüdischen Kapitalistenfamilie öffentlich aufzuwerten und damit zugleich auch der Deklaration größere internationale Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Formal war der Brief Balfours an Lord Rothschild vom 2. November eine Reaktion auf ein Schreiben, das dieser am 18. Juli 1917 im Einvernehmen mit Weizmann an den Außenminister gerichtet hatte. Dieser Brief lautete: "Lieber Mr. Balfour, endlich bin ich in der Lage, Ihnen die Formulierung zu schicken, um die Sie mich gebeten hatten. Wenn die Regierung Seiner Majestät mir eine Botschaft auf den Linien dieser Formulierung schicken würde, (...) würde ich die Botschaft an die Zionist Federation weiterleiten und sie auf einer zu diesem Zweck einberufenen Versammlung bekanntgeben.“

Der mit Rothschilds Brief verbundene Entwurf hatte folgenden Wortlaut:1. Die Regierung Seiner Majestät akzeptiert den Grundsatz, dass Palästina als Nationale Heimstätte des jüdischen Volkes wiederhergestellt werden sollte. 2. Die Regierung Seiner Majestät wird sich nach besten Kräften bemühen, das Erreichen dieses Ziels sicherzustellen, und wird die dazu notwendigen Methoden und Mittel mit der zionistischen Organisation diskutieren."

Zwischen dem von Lord Rothschild am 18. Juli übersandten Entwurf und der endgültigen Fassung lagen Monate intensiver Diskussion mit zahlreichen Beteiligten verschiedener Bereiche, wobei mehrere Zwischenentwürfe produziert wurden. Ein Vergleich der beiden Texte zeigt, wo die "Knackpunkte" lagen:

1. Rothschilds Entwurf sprach von Palästina als Heimstätte, die Balfour Declaration schließlich nur von einer Heimstätte in Palästina. Im ersten Fall wäre das Land insgesamt gemeint, im zweiten nur ein nicht definierter Teil oder auch nur eine teilweise Souveränität.

Zu keinem Zeitpunkt im Entstehungsprozess der Deklaration wurde definiert, was exakt unter Palästina verstanden werden sollte. Dieser Name war damals allgemein für die Region gebräuchlich, die damals zur Türkei gehörte, entsprach aber keiner existierenden Verwaltungseinheit mit definierten Grenzen. Palästina war lediglich rund 1.500 Jahre früher, in spätrömischer Zeit, der Name einer Provinz des Imperiums gewesen.

Der in Allen Entwürfen verwendete Begriff "national home" ("nationale Heimstätte") geht wörtlich auf das programmatische Ziel der Zionisten zurück, wie es auf deren erstem internationalen Kongress in Basel 1897 beschlossen worden war. Dieser Begriff ließ den staatsrechtlichen Status des zu schaffenden Gebildes bewusst offen. In ihren Erinnerungen räumten später die meisten britischen Beteiligten ein, dass bei der Formulierung der Balfour Declaration perspektivisch an einen Staat gedacht worden war – aber erst, nachdem die Juden durch verstärkte Einwanderung zur Mehrheit im Land geworden wären.

2. In Rotschilds Entwurf stand "the national home", in der Endfassung lediglich abgeschwächt "a national home". Damit sollte der Anspruch oder das Verständnis vermieden werden, Palästina solle die ausschließliche Heimat aller Juden der Welt werden.

3. Die in Lord Rothschilds Entwurf gewünschte britische Zusage, die Methoden und Mittel zur Schaffung der "jüdischen Heimstätte" mit den Zionisten zu diskutieren, wurde in die Endfassung der Deklaration nicht aufgenommen. Das gab der britischen Regierung später freiere Hand, als sie sich in den 20er und vor allem in den 30er Jahren von dem Projekt etwas zu distanzieren begann.

4. Der nachgeschobene Hinweis in der endgültigen Fassung der Deklaration, dass die Rechte und der politische Status der Juden in anderen Ländern nicht beeinträchtigt werden sollten, widerspiegelt Einwände von maßgeblichen Juden im britischen Regierungsapparat.

5. Dass die arabischen Bewohner Palästinas - damals immerhin eine Mehrheit von etwa 85%! - in der Balfour Declaration nicht einmal erwähnt, sondern hinter dem Begriff der „non-Jewish communities“ versteckt wurden, und dass lediglich von bürgerlichen und religiösen, nicht aber von nationalen Rechten dieser eindeutigen Bevölkerungsmehrheit die Rede war, entspricht der damaligen gemeinsamen Sicht von britischer und zionistischer Seite.

Die Balfour Declaration war das Ergebnis systematischer, strategisch durchdachter und konsequent betriebener Anstrengungen, die von einzelnen Exponenten des Zionismus, in enger Zusammenarbeit mit Funktionären der britischen Regierung, insbesondere im Außenministerium, schon seit fast zwanzig Jahren unternommen wurden. Das Ergebnis wäre nicht möglich gewesen ohne ein gut geknüpftes Netz persönlicher Verbindungen. Im Zustandekommen der Deklaration widerspiegelt sich auch die Tatsache, dass in England während des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Juden sich in der Gesellschaft und im Staatsapparat etabliert hatten und einen direkten Zugang zu Regierungskreisen besaßen.

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass schon der Begründer des organisierten Zionismus, Theodor Herzl - er starb im Juli 1904 - in der strategischen Orientierung auf Großbritannien den Schlüssel zum Erfolg des zionistischen Projekts gesehen hatte. Seit etwa 1902 stand der britische Staat uneingeschränkt im Zentrum der zionistischen Anstrengungen. Dass die Realisierung der nationalstaatlichen Ziele des Zionismus am ehesten im Rahmen einer Aufteilung der Türkei, vermutlich im Zuge eines großen Krieges, erfolgen würde, war ein normaler Gegenstand von strategischen Überlegungen. Seit Beginn des Krieges am 28. Juli 2014, spätestens aber seit dem Kriegseintritt der Türkei am 12. November 1914, waren die in England lebenden und agierenden Zionisten bemüht, die Regierung zu einer verpflichtenden Erklärung zu bewegen. Schwung gewannen diese Versuche aber erst, nachdem David Lloyd George – ein einflussreicher Politiker der Liberalen Partei und seit 1926 deren Vorsitzender – am 6. Dezember 1916 Premierminister geworden war.

Selbstverständlich verfolgte die britische Regierung mit der Balfour Declaration auch eigene Absichten. Dabei standen grundsätzliche Ziele neben taktischen Gesichtspunkten, die sich aus dem Kontext des Weltkriegsverlaufs ergaben. Zu den ersten gehört die schon seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder diskutierte These, dass eine jüdisch dominierte Kolonie am geostrategisch eminent wichtigen Platz Palästina für die imperiale Politik Großbritanniens erhebliche Vorteile bieten könnte.

Zu den taktischen Gesichtspunkten: Die britische Regierung erhoffte sich 1917 von einer öffentlichen Erklärung zugunsten der "jüdischen Heimstätte" eine große propagandistische Wirkung auf die Juden in aller Welt, insbesondere in Russland, in den USA sowie auf der anderen Seite der Front in Österreich-Ungarn und Deutschland. Oder zumindest war dies das Narrativ, mit dem das zionistische Projekt als britischen Interessen dienend „verkauft“ wurde.

Die Zionistische Weltorganisation hatte sich vor dem Krieg darauf verständigt, im Fall eines militärischen Konflikts zwischen den Großmächten neutral zu bleiben. Die Praxis zeigte, dass sich dies nicht durchhalten ließ, weil - abgesehen von Russland - viele Juden mit einiger Begeisterung zu den Fahnen ihrer Heimatländer eilten. Zweitens aber hätte Neutralität den Zionismus seinem Ziel wahrscheinlich keinen Schritt nähergebracht.

Als der Erste Weltkrieg begann, befand sich die politische Zentrale der Zionistischen Weltorganisation in Berlin, während ihre wichtigsten finanziellen Institutionen in London ansässig waren. Chaim Weizmann plädierte deshalb dafür, während des Krieges anstelle der Berliner Zentrale eine provisorische Leitung in den (zunächst noch neutralen) USA zu bilden. Der Kompromiss war schließlich, dass eine Nebenstelle der Zentrale im neutralen Kopenhagen gebildet wurde. Außerdem wurden zwei russische Mitglieder der sechsköpfigen zentralen Leitung nach London geschickt, um von dort aus tätig zu sein.

De facto war damit die Führung der Zionistischen Weltorganisation gespalten. Die Zionisten in Großbritannien agierten autonom und konträr zur Berliner Zentrale, indem sie sich für die britische Kriegspolitik einspannen ließen und in diesem Sinn offensiv unter den Juden anderer Länder warben. Ein im März 1916 gefasster Beschluss der Berliner Zentrale, sich an keinen Verhandlungen mit einer Regierung zu beteiligen, die im Kriegszustand mit der Türkei war, wurde von den Londoner Vertretern missachtet. Da England sich zu diesem Zeitpunkt längst im Krieg mit der Türkei befand, richtete sich der Beschluss hauptsächlich und leicht erkennbar gegen die Verhandlungen der Londoner Zionisten mit der britischen Regierung.

Großbritannien befand sich im Kriegsbündnis mit Russland. Das warf, was den "jüdischen Aspekt" angeht, große Probleme auf. Die jüdischen Bewohner des Zarenreichs, seit Jahrhunderten Opfer von Unterdrückung, Pogromen und wirtschaftlicher Einschnürung, waren zum größten Teil an der Verteidigung ihres "Vaterlands" nicht interessiert. Das betraf keineswegs nur Russland selbst. In den USA waren über 80% der jüdischen Bevölkerung Neueinwanderer, die in den Jahrzehnten seit 1880 aus Osteuropa, in erster Linie aus dem russischen Machtbereich, gekommen waren. In England lag dieser Anteil immerhin bei rund 50%. Hinzu kam, dass in der Minderheit der etablierten Juden in den USA viele oder sogar die Meisten deutsche Wurzeln hatten und aus diesem Grund auch nicht als besonders kriegswillig galten.

Das öffentliche Bekenntnis zum zionistischen Projekt wurde von der britischen Regierung als Köder angesehen oder wenigstens dargestellt, mit dem die osteuropäischen oder aus Osteuropa stammenden Juden für den Krieg gewonnen werden könnten. Dabei bestanden übertriebene Vorstellungen über die finanzielle und publizistische Macht der Juden in den USA sowie über ihre Bedeutung im revolutionären Prozess Russlands. Diese Vorstellungen, die im Grunde antisemitischen Klischees nahekamen, wurden von den zionistischen Exponenten in London bewusst bestätigt und bestärkt.

In diesem Kontext hatte das Jahr 1917 zwei entscheidende Ereignisse gebracht. Erstens hatten die USA am 6. April 1917 Deutschland den Krieg erklärt. Zweitens war in Russland seit März 1917 ein revolutionärer Prozess im Gang, der zum Kriegsausstieg eines wichtigen Verbündeten zu treiben drohte.

Der Kriegseintritt der USA war für die britische Regierung selbstverständlich hoch erwünscht. Es würde aber voraussehbar noch mehrere Monate dauern, bis dieser an den Fronten in Frankreich spürbar werden konnte. Die US-amerikanischen Streitkräfte zählten nur wenige hunderttausend Mann, waren unzureichend ausgebildet und ausgerüstet; es gab keine Wehrpflicht. Als der Krieg im November 1918 endete, waren rund vier Millionen US-Amerikaner „mobilisiert“ worden. Der Anfang dieser Entwicklung war jedoch mühsam. Erst in den letzten Junitagen 1917 trafen die ersten US-Infanterie-Einheiten in Frankreich ein, konnten aber auf ihrem Ausbildungsstand noch nicht zum Einsatz kommen. Am 2. November 1917 starben zum ersten Mal zwei amerikanische Soldaten bei einem deutschen Angriff, wohl eher zufällig. Zum ersten wirklichen Kampfeinsatz von US-Truppen kam es während der „Schlacht von Cambrai“ (20. November – 7. Dezember 1917): Drei dafür gar nicht vorgesehene Pionier-Regimenter wurden zur Entlastung des bedrängten britischen Heeres „an die Front geworfen“.

In den Verhandlungen zwischen der britischen Regierung und den Zionisten über den Text der Deklaration konnte also, obwohl der formale Kriegseintritt der USA schon im April 1917 erfolgt war, immer noch damit argumentiert werden, man könne dadurch deren tatsächliche Kriegsbeteiligung beschleunigen. Außerdem dauerte es noch bis zum 7. Dezember 1917, bis die USA auch Österreich-Ungarn den Krieg erklärten, und zu den von London gewünschten amerikanischen Kriegserklärungen gegen die Türkei, Bulgarien und andere Verbündete Deutschlands kam es gar nicht.

In Russland war durch die Februarrevolution – nach westlichem Kalender am 8. März 1917 – das autokratische Regime der Zaren beseitigt worden. Die Haupttriebkraft des Umsturzes war der zunehmende Widerstand der Volksmassen, vor allem der Bauern und der zahlenmäßig noch schwachen Arbeiterschaft, gegen den Krieg und seine wirtschaftlichen Folgen. Trotzdem zielte die Politik der bürgerlichen Regierungen, die nach der Februarrevolution gebildet wurden, darauf ab, den Krieg unter neuen Parolen – wie etwa „Frieden ohne Annexion und Kontributionen“ – unbegrenzt lange fortzusetzen. Ein bemerkenswerter Zufall in diesem Kontext: Die Balfour Declaration wurde am selben Tag, dem 9. November 1917, veröffentlicht, an dem die Zeitungen die ersten Meldungen über den Aufstand der Bolschewiki in Petrograd brachten. In Russland konnte die Deklaration also gar nichts bewirken. Ob das in den USA wesentlich anders war, ist zu bezweifeln.

Aber die Balfour Declaration verfolgte aus britischer Sicht noch einen weiteren Zweck: Sich auf dem selbstlos klingenden Umweg über die Fürsorge für das jüdische Volk die Kontrolle über eine ebenso wichtige wie umstrittene Region zu sichern.

Seit etwa 1840 hatte England mit großem Misstrauen französische Versuche verfolgt, sich im Nahen Osten (Syrien, Libanon) festzusetzen. Mit der Eröffnung des Suez-Kanals (1869), der anfangs zu über 80% von englischen Schiffen befahren wurde, und der Besetzung Ägyptens durch England (1882) verschärfte sich der Gegensatz noch. Ein Ergebnis war, dass die britische Regierung sich in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg für den Erhalt des Status Quo im Nahen Osten und die Stabilisierung der türkischen Vorherrschaft einsetzte.

 

Aber mit dem Kriegseintritt der Türkei war klar, dass es – im Fall eines Sieges Englands und seiner Verbündeten - an die Aufteilung des türkischen Imperiums gehen würde. Zu diesem Zweck begannen im Herbst 1915 französisch-britische Verhandlungen, die im Januar 1916 ein unterschriftsreifes Abkommen erbrachten, das schließlich im Mai 1916 ratifiziert wurde. Es ist unter dem Namen Sykes-Picot Agreement bekannt. Unter anderem sollte das südliche Mesopotamien (heute Irak) an Großbritannien gehen, während Frankreich die Küstengebiete des Libanon und Syriens erhalten sollte. Ein nicht exakt definierter "unabhängiger" arabischer Staat sollte gebildet werden, der aber auch in eine britische und eine französische "Einflusssphäre" aufgeteilt wurde. Für das Gebiet Palästinas wurde vereinbart: Ein Streifen im Norden mit den Hafenstädten Akkon und Haifa sollte unter britische Kontrolle kommen. Der Rest sollte "internationalisiert" werden, worunter damals informell ein britisch-französisches Kondominium verstanden wurde.

Die Balfour Declaration, in Verbindung mit einem britischen Mandat über Palästina, war also auch ein elegantes Mittel, um in diesem Punkt das Abkommen mit Frankreich zu unterlaufen. Großbritannien konnte diesen Weg gehen, weil es bei Kriegsende Palästina militärisch besetzt hielt. Der entscheidende erste Durchbruch durch die bis dahin erstaunlich widerstandsfähige türkische Palästina-Front erfolgte am 31. Oktober 1917 - dem gleichen Tag, an dem das britische Kriegskabinett die Balfour Declaration billigte. 

Knut Mellenthin

Junge Welt, 2. November 2017