KNUT MELLENTHIN

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"Wiedergutmachung" für nicht wieder gut zu Machendes

Vor 65 Jahren, am 10. September 1952, unterschrieben Vertreter beider Regierungen das Reparationsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel. Nach dem Schauplatz des betont unzeremoniell gestalteten Vorgangs sprach man auch vom „Luxemburg-Abkommen“. Die in Deutschland vorzugsweise mit dem verfälschenden Wort „Wiedergutmachung“ bezeichnete Übereinkunft bestand aus zwei Protokollen. Im ersten verpflichtete sich die BRD, an Israel verteilt auf einen Zeitraum von maximal zwölf Jahren insgesamt drei Milliarden Mark (DM) zu zahlen. Das sollte dem jungen, im Mai 1948 gegründeten jüdischen Staat ermöglichen, dringend benötigte Waren, insbesondere Investitionsgüter wie Fabrikanlagen, Eisenbahnen, Kraftwerke und Handelsschiffe, sowie Maschinen für die Landwirtschaft und die Bauindustrie zu kaufen.

Im zweiten Protokoll erklärte sich die westdeutsche Regierung bereit, im Laufe eines Jahrzehnts insgesamt 450 Millionen DM an die internationale jüdische Gemeinschaft zu zahlen, deren Ansprüche durch die 1951 gegründete Conference on Jewish Material Claims Against Germany, kurz „Claims Conference“ genannt, vertreten wurden. Dieses Geld war für individuelle Entschädigungen an überlebende Opfer des Holocaust bestimmt.

Die Summe beider Protokolle belief sich zum damaligen Zeitpunkt auf 822 Millionen US-Dollar. Niemand konnte voraussehen, dass daraus aufgrund von Zusatz- und Nachfolgeabkommen allein bis 2012 rund 89 Milliarden Dollar werden würden, wie die New York Times am 17. November jenes Jahres berichtete.

Aus natürlicherweise gegensätzlichen Gründen war das Reparationsabkommen in beiden Staaten umstritten. Zwar billigte der Bundestag den Vertrag am 18. März 1953 mit 239 gegen 35 Stimmen. Diese scheinbar deutliche Mehrheit kam aber nur zustande, weil viele Abgeordnete der regierenden CDU/CSU und ihrer Koalitionspartner nicht an der Abstimmung teilnahmen oder sich der Stimme enthielten. Geschlossen für das Abkommen votierte nur die SPD. Dabei spielte neben der grundsätzlichen Einstellung zu diesem Thema auch eine Rolle, dass Israel damals eine sozialdemokratisch dominierte Regierung hatte. Zwischen den Parteien und Gewerkschaften beider Länder bestanden bereits Beziehungen.

In Israel rief das Abkommen mit dem selbsterklärten Nachfolgestaat des „Dritten Reichs“ heftigen Widerstand und Straßenproteste hervor. Das Parlament, die Knesset, stimmte Anfang Januar 1952 der Aufnahme von Verhandlungen nur mit dem knappen Ergebnis von 61 gegen 50 Stimmen zu. Viele Kritiker lehnten das „Blutgeld“ vom „Tätervolk“ kategorisch ab. Hauptgegner waren auf der Rechten die „Cherut“ – die wichtigste Vorläuferpartei von Benjamin Netanjahus Likud – und die an der Regierungskoalition beteiligten Allgemeinen Zionisten, sowie auf der Linken die Vereinigte Arbeiterpartei, hebräisch Mapam.

Um eine erneute Kampfabstimmung in der Knesset zu vermeiden, einigten sich die wichtigsten Parteipolitiker später darauf, dass zur Ratifizierung des Reparationsabkommens mit der BRD nur das Votum des Außenpolitischen Ausschusses, das am 22. März 1953 mit acht gegen fünf Stimmen erfolgte, und das des Kabinetts erforderlich sein sollten. Am 27. März 1953 trat das Abkommen in Kraft. Es wich in einem Punkt von dem in Luxemburg unterzeichneten Text ab: Eine Klausel, die die Lieferung von Reparationsgütern auf deutschen Frachtschiffen ausschloss, war auf Druck von BRD-Reedereien gestrichen worden.

Alle Fakten und Umstände sprechen dafür, dass es zumindest zur damaligen Zeit, so wenige Jahre nach dem deutschen Völkermord an den Juden Europas, nicht zu Verhandlungen gekommen wäre, wenn die wirtschaftliche Situation Israels nicht sehr schlecht gewesen wäre. Die Importe des jungen Staates waren in den ersten drei Jahren nach seiner Gründung nur zu 12,4 Prozent durch eigene Ausfuhren gedeckt. In dieser Zeit nahm Israel rund 500.000 jüdische Einwanderer auf, von denen viele arm waren.

Vor diesem Hintergrund hatte sich die israelische Regierung am 12. März 1951 an die vier Hauptmächte der Kriegskoalition – USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – mit der Bitte gewandt, sie bei der Durchsetzung von Reparationsansprüchen gegenüber Deutschland zu unterstützen. Ein halbes Jahr später – geheime Vorgespräche hatten schon begonnen – teilte BRD-Kanzler Konrad Adenauer in einer Erklärung vor dem Bundestag offiziell die Bereitschaft zur Aufnahme von Verhandlungen über „eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems“ mit. Im Oktober 1951 gründeten 23 nationale und internationale jüdische Organisationen die Claims Conference als rechtliche Vertreterin der außerhalb Israels lebenden Juden.

Dass die BRD sich weigerte, über Entschädigungen an die vom deutschen Angriffskrieg am schwersten betroffene Sowjetunion und andere Staaten Osteuropas auch nur zu sprechen, kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Nicht so sehr ist aber im Bewusstsein, dass darunter auch jüdische Überlebende des Holocaust zu leiden hatten. Individuelle Zahlungen gab es jahrzehntelang nur für diejenigen unter den Opfern, die im Oktober 1953 in einem nichtsozialistischen Land gelebt hatten. Erst 1980 konnte die Claims Conference wenigstens die Schaffung eines „Härtefonds“ für diejenigen unter den immer weniger werden Überlebenden erreichen, die nach dem Stichtag im Oktober 1953 in den Westen gekommen waren. Erst im November 2012 erkannte Deutschland generell die Entschädigungsansprüche von Holocaust-Überlebenden an, die vor der „Wende“ in der Sowjetunion oder in den von ihr beeinflussten Ländern gelebt hatten.

Was dagegen gut klappte, waren schon wenige Jahre nach dem Luxemburger Abkommen umfangreiche deutsche Waffenlieferungen an Israel. Im Dezember 1957 oder Januar 1958 bewirtete der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in seiner Privatwohnung insgeheim eine hochrangige Delegation, die vom Generalsekretär im israelischen Verteidigungsministerium, Schimon Perez, geleitet wurde. Man wurde sich schnell einig. Im Spiegel berichtete Strauß später: „Wir haben die Israel zugesagten Geräte und Waffen heimlich aus den Depots der Bundeswehr geholt und hernach als Ablenkungsmanöver bei der Polizei Diebstahlsanzeige erstattet. Hubschrauber und Flugzeuge wurden ohne Hoheitszeichen nach Frankreich geflogen und von Marseille aus nach Israel verschifft. Was heute unvorstellbar wäre: Die Aktion blieb geheim, und dies für fast sieben Jahre. Erst 1964, unter Erhard, kam die Geschichte hoch, als es um Panzerlieferungen nach Israel ging.“ (11.9.1989)

Knut Mellenthin

Junge Welt, 7. September 2017