KNUT MELLENTHIN

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"Modell Deutschland" - aus und vorbei?

"Schlaraffenland abgebrannt", titelte der SPIEGEL am 13. Mai. "Geburtenrückgang und Arbeitslosigkeit haben die sozialen Sicherungssysteme verwüstet - der Sozialstaat bisheriger Prägung ist am Ende. Die Rente ist unsicher, niemand weiß, womit Arbeitslosengeld, Pflegehilfe und Krankengeld in Zukunft bezahlt werden sollen. Die Gewerkschaften befürchten das Schlimmste: Kapitalismus pur."

Auf etwas andere Weise drückte die WIRTSCHAFTSWOCHE am 9. Mai die gleiche Erwartung aus: "So lautstark die Arbeitnehmer protestieren, der Weg in eine amerikanische, und das heißt vor allem flexiblere und stärker auf Leistung beruhende Gesellschaft ist unausweichlich." "Mit ein bißchen weniger Lohn hier und ein wenig längerer Arbeitszeit dort wird das nicht zu machen sein." Das gesamte Tarifsystem müsse zerschlagen oder zumindest auf Restbestände reduziert werden. Der Staat solle "sich auf das Nötigste beschränken", und die soziale Sicherung für Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit gehört nach amerikanischem Vorbild in Zukunft nicht mehr dazu.

Wunderbare Medienvielfalt: Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften, über ein Dutzend Fernsehsender. In Allen lesen, sehen und hören wir das Gleiche. Redakteure mit Nettogehältern von 5.000 Mark an aufwärts wettern unisono gegen die heiligen Kühe des Besitzstanddenkens. Chefredakteure, die es mit Nebeneinnahmen und Steuertricks locker auf 200.000 Mark im Jahr bringen, mokieren sich über das Anspruchsdenken von Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen. Millionäre weinen sich aus, daß Dienstleistungen in Deutschland unbezahlbar geworden seien, wenn sie ihrer Putzfrau 15 Mark Stundenlohn bezahlen sollen.

Arbeitslosigkeit kostet 200 Milliarden Mark im Jahr

Der "Sozialstaat" ist nicht mehr finanzierbar, zweifelsfrei. Das liegt nicht daran, daß sich die individuellen Ansprüche erhöht haben. Im Gegenteil, an diesen wird schon seit mehr als 15 Jahren überall herumgeschnitten. Explosionsartig angestiegen ist aber die Zahl der Menschen, die durch Arbeitslosigkeit und andere Notlagen gezwungen sind, Leistungen in Anspruch zu nehmen. Zugleich ist aufgrund der konstant hohen Arbeitslosigkeit die Zahl der Erwerbstätigen stark gesunken, die mit ihren Steuern das Sozialsystem finanzieren müssen. Entsprechend überhöht ist in der Tat das Bruttolohnniveau, während gleichzeitig die meisten abhängig Beschäftigten bereits mit abnehmenden Reallöhnen konfrontiert sind.

Der volkswirtschaftliche Schaden durch die hohe Arbeitslosenquote wird auf mindestens 200 Milliarden Mark im Jahr geschätzt. Zur Verdeutlichung der Größenordnung: Von 1990 bis Mitte 1995 investierten deutsche Unternehmen insgesamt rund 170 Milliarden Mark im Ausland. Abgesehen von den sozialen Kosten findet in Form der Arbeitslosigkeit eine permanente Vernichtung von Produktivkraft und eine Entwertung der menschlichen Arbeitskraft statt. Nach allgemeiner Überzeugung verursacht Langzeitarbeitlosigkeit Persönlichkeitsstörungen und Dequalifizierungen, die dazu führen, daß die Betroffenen entweder gar nicht mehr oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten wieder in einen "normalen" Arbeitsablauf integriert werden können. Zu dieser als praktisch nicht mehr vermittelbar geltenden Gruppe gehört heute schon jeder dritte Arbeitslose.

Kaum noch in Erinnerung ist das von Bundesregierung und Gewerkschaften im Januar gemeinsam versprochene Ziel, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 - also innerhalb von vier Jahren! - auf die Hälfte zu senken. Für diese Ankündigung gab es niemals eine reale Basis, ebenso wenig wie Vorstellungen über den Weg dorthin. Meinungsumfragen, die unmittelbar vor dem Spitzentreffen im Januar veröffentlicht wurden, zeigten, daß über 90 Prozent der Bevölkerung nicht glauben, es werde sich am heutigen hohen Niveau der Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren etwas ändern. Sämtliche Prognosen von Wirtschaftsfachleuten unterstützen diese pessimistische Einschätzung.

Nach offizieller Zählung waren in Deutschland im Jahresdurchschnitt 1995 rund 3,6 Millionen Menschen arbeitslos. Hinzu zu rechnen sind diejenigen, die aufgrund von ABM-Maßnahmen, Umschulungen u.ä. vorübergehend aus der Statistik herausfallen, sowie Langzeitarbeitslose, die es aufgegeben haben, sich noch um einen Job zu bemühen; hinzu kommen zwangsweise in Vorruhestandsregelungen, Frühinvalidität u.ä. Abgeschobene. Außerdem gibt es viele Menschen, die wider Willen nur Teilzeitjobs haben, von denen sie kaum leben können, die aber für die Statistik als Erwerbstätige gelten. Niedrige Schätzungen gehen davon aus, daß die Zahl der Arbeitsuchenden in Deutschland bei sechs Millionen liegt; sieben Millionen ist heute eine übliche Annahme, und auch Schätzungen bis zu acht Millionen sind nicht unwahrscheinlich.

Um die Arbeitslosenzahl zu halbieren, müßten also in den nächsten vier Jahren netto mindestens drei Millionen neue Jobs geschaffen werden. Nach einer Analyse des Schweizer Wirtschaftsforschungsinstituts Prognos wird jedoch bis zum Jahr 2000 die Zahl der registrierten Arbeitslosen nur leicht auf 3,4 Mio. sinken; die Gesamtzahl der Arbeitssuchenden würde dann bei 5,7 Mio. liegen. Bis zum Jahr 2010 wird ein Rückgang auf 2,8 bzw. 4,7 Mio. vorausgesagt.

Das ist, wenigstens soweit es die nächsten Jahre angeht, eine vermutlich noch allzu optimistische Prognose. Eine interne Studie aus der CDU/CSU-Fraktion geht davon aus, daß die offizielle Arbeitslosigkeit bis 1998 auf fünf Millionen anwachsen wird. (Spiegel 15/1996) - Eine Umfrage im Herbst 1995 ergab, daß im Zeitraum des nächsten halben Jahres jeder dritte Unternehmer Entlassungen vornehmen wollte, während nur jeder zehnte Neueinstellungen plante. Jobs werden im laufenden Jahr in den meisten Zweigen der Industrie, im Einzelhandel, im Versicherungsgewerbe und in den Banken, im gesamten öffentlichen Dienst sowie beim Handwerk verloren gehen. Auch in der Industrie ist die "Umstrukturierung", sprich Entlassungswelle, noch nicht abgeschlossen.

Der Staat als Motor der Arbeitslosigkeit

Die von der Bundesregierung betriebene Politik trägt erheblich dazu bei, die Zahl der Arbeitslosen in den kommenden Jahren weiter ansteigen zu lassen:

  • Im öffentlichen Dienst findet ein heftiger Stellenabbau statt, der aufgrund der katastrophalen Finanzlage noch ausgeweitet werden wird. Ein Großteil der freigesetzten Arbeitskräfte sind, gemessen an den Anforderungen der "freien Wirtschaft", gering qualifiziert und entsprechend schwer vermittelbar.
  • Die schrittweise Heraufsetzung des Rentenalters und die Streichung der Vorruhestandsregelung beschert dem Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren mehrere hunderttausend neue Arbeitslose - fast durchweg schwer vermittelbare.
  • Die geplante massive Streichung von ABM-Maßnahmen, besonders im Bereich der früheren DDR, schafft in kurzer Zeit mindestens eine halbe Million registrierte Arbeitslose zusätzlich. Allerdings erhöht sich dadurch nicht die Gesamtzahl der tatsächlich fehlenden Jobs, weil die Ausgliederung der ABM-Beschäftigten aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik ohnehin nicht viel mehr als ein Rechentrick war.
  • Die geplante Verschlechterung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird voraussichtlich zu einem Rückgang der Fehltage führen. 250.- 500.000 Arbeitsplätze könnten dadurch überflüssig werden.
  • Die als "Gesundheitsreform" bezeichneten Einschnitte in das Sozialsystem sind mit einem negativen Arbeitsplatzeffekt von mindestens 100.000 Jobs im Gesundheitswesen zu veranschlagen.
  • Der vom Staat verursachte Kaufkraftverlust der Bezieher von Sozialleistungen verschärft die ohnehin seit mehr als einem Jahr zu verzeichnenden Umsatzeinbußen des Einzelhandels, des Handwerks und des Gaststättengewerbes.
  • In die gleiche Richtung wirkt die Verunsicherung durch die in ihren Folgen noch gar nicht absehbare staatliche Demontage des Rentensystems im besonderen und des Sozialsystems im allgemeinen. Wenn "die Bürger" künftig in hohem Maße selbst für ihr Alter, für den Krankheitsfall usw. vorsorgen müssen, bleibt sehr viel weniger für den direkten Konsum übrig. Das merken Schallplatten- oder Buchhändler ebenso wie Taxifahrer oder Gastwirte.
  • Die von der Bundesregierung begünstigten betrieblichen Neuregelungen, die unter dem Titel "Flexibilisierung der Arbeitszeit" laufen, führen zu einer erheblichen Ausdehnung der effektiven Arbeitszeit, insbesondere auch durch Zwang zur Arbeit an den Wochenenden und wahrscheinlich demnächst auch abends und nachts. Regelungen wie die "Arbeitszeitkonten" ermöglichen, daß der Unternehmer die von ihm Abhängigen genau dann beschäftigen kann, wenn er sie wirklich braucht. Der von den Gewerkschaften propagierte obligatorische "Freizeitausgleich" für Überstunden macht diese sehr viel billiger als bisher. Unterm Strich werden für das gleiche Arbeitsvolumen weniger Arbeitskräfte als bisher benötigt. In einzelnen Betrieben und Bereichen, auch in Teilen des öffentlichen Dienstes, wird sogar die wöchentliche Arbeitszeit unmittelbar heraufgesetzt.

Er fängt gerade erst an

Bei alledem ist zu bedenken, daß wir wahrscheinlich erst ganz am Anfang einer schweren Krise des deutschen Sozialsystems stehen, das bisher dem Kapital eine sehr ruhige, nicht von Klassenkämpfen gestörte Entwicklung ermöglicht hat.

Die Faktoren, die in der Regel zur Erklärung des anhaltend hohen Niveaus der Arbeitslosigkeit angegeben werden - die "Globalisierung" von Produktion, Technologie, Finanzwesen, Märkten usw. mit den daraus resultierenden Wettbewerbsproblemen und Standortschwierigkeiten für das Hochlohn-Land BRD - sind bisher erst kaum wirksam geworden.

Beispielsweise: Sicher kann zukünftig ein großer Teil der Produktion und Verwaltung in Niedrigstlohn-Länder ausgelagert werden. Schon heute produzieren Computerfirmen Software in Indien, große Unternehmensberater lassen ihre Daten auf den Philippinen erfassen, usw. Das Ausmaß solcher Auslagerungen ist aber bisher, relativ gemessen, gering. Ebenso werden bisher die Produktionsmöglichkeiten in den Billiglohn-Ländern Osteuropas - die ja erst seit 1989/90 bestehen - nur in geringem Umfang wahrgenommen. Für das hohe Niveau der Arbeitslosigkeit in Deutschland spielt die Verlagerung und Auslagerung von Produktionsteilen bisher nur eine Nebenrolle.

Natürlich ist es eindrucksvoll, wenn man liest, daß deutsche Unternehmen im letzten Jahr 50 Milliarden Mark im Ausland investierten, während umgekehrt nur 13 Milliarden Mark ausländisches Kapital in der BRD angelegt wurden. Zumal wenn man daneben hält, daß im selben Jahr 35 Milliarden Dollar Auslandsinvestitionen nach Großbritannien geflossen sind. Hierbei handelt es sich aber um Vorgänge, die erst im Verlauf von mehreren Jahren einen deutlichen Beschäftigungseffekt zur Folge haben werden. Die schon seit Mitte der achtziger Jahre verzeichnete Schwäche des deutschen Arbeitsmarktes kann damit also nicht erklärt werden. Richtig ist lediglich, daß die gegenwärtige relativ schwache Investitionstätigkeit in Deutschland eine Verschärfung der Probleme für die Zukunft ankündigt.

Die hohe Arbeitslosigkeit, mit der Folge einer Überbeanspruchung der öffentlichen Haushalte bei gleichzeitig sinkenden Steuereinnahmen, ist immer noch ganz überwiegend die Folge von Rationalisierungen. Das Problem ist bis heute nicht so sehr, daß einige zehntausend Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlegt wurden, sondern daß hunderttausende Jobs einfach beseitigt wurden.

Das hat mit der vielbeschrienen "Flucht" vor den hohen Löhnen und Lohnnebenkosten nicht viel zu tun. Selbstverständlich erleichtert ein hohes Lohnniveau gegebenenfalls die Entscheidung, in Rationalisierungen zu investieren. Aber auch bei niedrigen Löhnen beschäftigt ein vernünftig denkender Kapitalist nicht mehr Leute, als er tatsächlich für die Produktion, die er voraussichtlich absetzen kann, benötigt. Das Gleiche gilt im Handel oder im Bankgewerbe. Die Behauptung der Wirtschaftsliberalisten, niedrigere Löhnen hätten quasi automatisch mehr Jobs zur Folge, ist so blöd, daß sie vermutlich nur zu Propagandazwecken ständig wiederholt wird. Im Gegensatz zu vielen anderen Waren macht es noch nicht einmal Sinn, Arbeitskraft "auf Vorrat" einzukaufen, wenn sie gerade billig ist: sie muß ständig sofort verbraucht werden.

Es kommt hinzu, daß in der gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Entwicklung "schlanke Produktion" vielleicht sogar über das wirtschaftlich vernünftige Maß hinaus als Selbstzweck angestrebt wird. Ein Unternehmen, das 30.000 oder 50.000 Beschäftigte rausschmeißt, gilt als innovativ und leistungsstark. Ein Manager, der Arbeitslosigkeit produziert, wird als erfolgreich und effektiv gefeiert; anderenfalls müßte ja vermutet werden, daß er an überholten Strukturen klebt oder, vielleicht noch schlimmer, ein unzuverlässiges Weichei ist.

In sämtlichen öffentlichen Erörterungen wird der erhebliche Anteil der "Wiedervereinigung" am hohen Stand der deutschen Arbeitslosigkeit ausgespart. In der früheren DDR wurden Millionen von Arbeitsplätzen mit einer Effektivität vernichtet, die die Wirkungen der mehrjährigen alliierten Luftoffensive gegen deutsche Industrieanlagen im Zweiten Weltkrieg eindeutig übertrifft. Mit marktwirtschaftlichem Wettbewerb hatte dieser Vorgang kaum etwas zu tun, im wesentlichen war das Instrumentarium staatsdirigistisch. Rund eine Million Menschen sind seither aus dem Gebiet der Ex-DDR nach Westen abgewandert. Die Mehrheit von ihnen ist in einem Alter, das sie zwangsläufig zu Konkurrenten auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt macht. Mehrere Hunderttausend weitere Einwanderer, Schätzungen reichen bis zu einer zweiten Million, werden voraussichtlich in den kommenden Jahren die neuen Bundesländer verlassen.

Nicht vergessen werden sollte, daß sich die deutsche Wirtschaft selbst - im Gegensatz zum allgemeinen Gejammer - immer noch bester Gesundheit erfreut. Ihre Leistung ist bei einer Bevölkerung von 81,5 Millionen größer als die von Großbritannien und Frankreich zusammengerechnet, die gemeinsam eine Bevölkerung von 116,3 Mio. haben. Der deutsche Export lag auch 1995 in absoluter Zahl hinter den USA an zweiter Stelle der Welt; auf Bevölkerungs-und Wirtschaftsgröße umgerechnet liegt Deutschlands Ausfuhr weit vor der amerikanischen. Auch der Zuwachs des Exports war in Deutschland mit 21 Prozent höher als in den USA mit 14 Prozent. Trotz vergleichsweise sehr hoher Lohn- und Lohnnebenkosten ist an der Wettbewerbstärke der deutschen Wirtschaft offensichtlich bis jetzt nicht zu zweifeln. Aus der Sicht des Kapitals betrachtet sind vier oder sieben Millionen Arbeitslose absolut kein Zeichen von Wettbewerbsschwäche, ganz im Gegenteil. Das Problem ist nur, daß das, was für jeden einzelnen Unternehmer vorteilhaft ist, den Staat insgesamt mit nicht mehr finanzierbaren Kosten und schweren sozialen Problemen belastet.

Vorbild Amerika?

Das "Jobwunder Amerika" wird angestaunt, wo immer Unternehmer oder Journalisten öffentlich über die Zukunft der deutschen Wirtschaft philosophieren. "Allein in der Ära Clinton sind 8,4 Millionen Jobs neu entstanden", behauptete der SPIEGEL am 8. April. Kurz zuvor hatte es angeblich mit über 700.000 neuen Jobs im Februar einen Super-Monatsrekord gegeben.

Der fragwürdige Ruhm gebührt aber nicht Clinton allein: Laut offizieller Statistik gingen in den USA seit 1979 zwar einerseits über 40 Millionen Jobs verloren, aber andererseits sollen 70 Millionen neue geschaffen worden sein. Macht netto 30 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze. Nach etwas anderer Zählung soll die Gesamtzahl der Erwerbstätigen (ohne Landwirtschaft) von 90 Mio. (1979) auf 117 Mio. (1995) gestiegen sein, macht netto 27 Millionen.

Abgesehen von Allen sonstigen Einwänden muß schon das Zahlenwerk angezweifelt werden. Erstens wird nicht unterschieden zwischen Vollzeitbeschäftigung und Allen Arten kleinerer Jobs, von denen allein kaum ein Mensch leben kann. Wurde beispielsweise ein Arbeitsplatz zwischen zwei Personen geteilt, macht das netto einen Job mehr und einen Arbeitslosen weniger. Wurde ein vollzeitbeschäftigter Industriearbeiter entlassen, der jetzt für ein Viertel seines bisherigen Stundenlohns einen Parkplatz bewacht, so zeigt die Job-Bilanz lediglich plus minus null oder brutto sogar einen neu geschaffenen Job an. Diese Zahlen sind, selbst wenn sie korrekt wären, überhaupt nicht aussagekräftig.

Es ist aber auch grundsätzlich zu bezweifeln, ob die Zahlen wenigstens stimmen. Die Verhältnisse in den USA sind heute so, daß viele Menschen gezwungen sind, zwei Jobs nebeneinander auszuüben, um finanziell über die Runden zu kommen. Die Frage ist, ob das in der Statistik in jedem Fall richtig zugerechnet worden ist, oder ob in relevantem Ausmaß Doppelzählungen vorkommen. Also: Sekretärin wird gefeuert, muß jetzt zwei Teilzeitjobs machen - stolzes Ergebnis in der Gesamtbilanz: ein Job mehr als vorher?

Immerhin verzeichnet auch das Land des "Job-Wunders" noch eine offizielle Arbeitslosigkeit von rund 5,5 Prozent - und in der schwarzen Bevölkerung ist die Quote ungefähr doppelt so hoch. Obwohl die Durchschnittslöhne sehr viel niedriger sind als in Deutschland, finden nach wie vor im großen Stil Rationalisierungen mit Massenentlassungen statt.

Ungefähr 20 Prozent der amerikanischen Erwerbstätigen wurden in den letzten 15 Jahren mindestens einmal gefeuert. Nur ein Drittel von ihnen fand einen neuen Arbeitsplatz zu gleichen oder besseren Bedingungen. Von den übrigen zwei Dritteln mußten viele in einen sozial nicht abgesicherten Frühruhestand gehen. Der Rest schlägt sich mit geringer bezahlten Jobs, mit Teilzeitbeschäftigung oder als kleine Selbständige durch. Schätzungsweise 10 Millionen Amerikaner arbeiten zum Mindestlohn von 4,25 Dollar/Stunde.

Insgesamt liegen die durchschnittlichen realen Arbeitseinkommen in den USA heute um etwa 3 Prozent unter dem Niveau von 1979; allein in der Regierungszeit Clintons fielen die Reallöhne um 2,5 Prozent. Zwar beträgt der reale Zuwachs der US-Haushaltseinkommen von 1979 bis 1994 rund 10 Prozent; aber von diesem Zuwachs entfallen 97 Prozent auf das reichste Fünftel der Bevölkerung.

Die weitaus meisten der neuen Jobs entstanden in kleinen und mittleren Firmen oder in der (Schein-) Selbständigkeit. Das bedeutet auch, daß viele, die früher in großen Industrie- oder Serviceunternehmen tätig waren, bevor sie gefeuert wurden, die betrieblichen Sozialleistungen und -sicherungen verloren haben, die sie dort hatten. Die Zahl derjenigen, die als "hilfsbedürftig" gelten, stieg in den letzten fünf Jahren von 31 auf 38 Millionen. Und noch eine weitere Schattenseite des amerikanischen Vorbilds deutet nicht nur dessen soziale Problematik an, sondern schlägt auch bei den Kosten zu Buch: Bezogen auf die Gesamtbevölkerung befinden sich in den USA ungefähr acht mal so viele Menschen im Gefängnis wie in Deutschland. Die Aufbewahrung eines amerikanischen Häftlings ist sehr viel teurer als die Unterstützung eines Arbeitslosen hierzulande.

Die Hauptvoraussetzungen des "amerikanischen Jobwunders" sind:

  • Ein insgesamt niedriges Lohnniveau für die unteren und durchschnittlichen Verdiener, vor allem eine extrem niedrige Festsetzung des Mindestlohns (4,25 Dollar/Stunde).
  • Praktisch vollständiges Fehlen von Kündigungsschutz-Bestimmungen. Ein Arbeiter kostet nur genau die Zeit, die er wirklich gebraucht wird und einsatzbereit ist.
  • - Fast völliges Fehlen von Regeln, die die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft begrenzen. Halb Amerika arbeitet rund um die Uhr, was wörtlich so zu verstehen ist, daß schon jetzt jeder zweite Erwerbstätige Nacht- und Feiertagsarbeit leisten muß.
  • Praktisch vollständiges Fehlen einer staatlichen Sozialversorgung, die als Schranke für den Fall des Lohnniveaus nach unten wirken würde. Für fünf Dollar Stundenlohn arbeitet auch in den USA nur, wer absolut keine Alternative mehr hat.
  • Ausschaltung der Gewerkschaften. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an den Beschäftigten sank von 33 Prozent in den 50er Jahren auf heute nur noch 15 Prozent. In den Klein- und Mittelbetrieben, wo die große Mehrheit der "neuen Jobs" entstanden ist, gibt es zumeist keine Arbeitervertretungen mehr. Die vielen neuen (Schein-) Selbständigen haben ohnehin keinen gewerkschaftlichen Schutz.
  • Insgesamt niedrige Reproduktionskosten der menschlichen Arbeitskraft. Auch ein Mindestlohn muß "irgendwie" zum Überleben ausreichen. Das setzt beispielsweise die Existenz von Elendsvierteln voraus, in denen man selbst mit sehr wenig Einkommen hausen und sich durchschlagen kann. Vermutlich spielt dabei auch die stillschweigende Duldung billigster "illegaler" Arbeit, "illegaler" Wohnverhältnisse usw. durch die Behörden eine erhebliche Rolle.

Nur unter solchen extremen Verhältnissen können Jobs auch da entstehen, wo es sich bei einem "deutschen" Niedriglohn oder gar bei einem tarifvertraglichen Arbeitsverhältnis längst nicht mehr rentieren würde. Der jetzt vielgepriesene Nachtservice in den USA beispielsweise - auch in Amerika sind für die meisten Dienstleistungen nachts weit weniger Kunden unterwegs als am Tage - lohnt sich für die Unternehmen oft nur aufgrund der Billigstlöhne oder durch Einsatz von Schwarzarbeit. Supermärkte können zum Nulltarif "Ware ins Haus" anbieten, weil es genug Menschen gibt, die mit den Trinkgeldern der Kunden zufrieden sein müssen. Fast schon ausgestorbene "Berufe" wie Kofferträger, Schuhputzer und Wagenwäscher boomen wieder. Selbst herzlich sinnlose Tätigkeiten wie etwa das Einpacken der von den Kunden gekauften Ware im Supermarkt putzen noch die strahlende Bilanz des "amerikanischen Jobwunders" auf.

Wie die "deutsche Krankheit" kuriert werden soll

Die deutsche Wirtschaft, die einst eine der mächtigsten der Welt war, sei angeschlagen und durcheinander, kommentierte die US-Zeitschrift "Newsweek" im März. Die konstatierte "deutsche Krankheit" bestehe in einer "tödlichen Kombination von überbezahlten und unterbeschäftigten Arbeitern, rigiden Arbeitsbestimmungen, risikoscheuen Managern und einem übereifrigen Staat, der die Wirtschaft zu Tode besteuert und reguliert".

In der gleichen Ausgabe war zu lesen, in Deutschland gebe es keinen Service. Die Zeitschrift nannte wahrlich erschreckende und überzeugende Beispiele: Die Frau eines Korrespondenten wurde aus einem Parfümladen geworfen, weil sie beim Eintreten nicht gegrüßt hatte; ein amerikanischer Fernsehproduzent mußte 15 Monate auf einen Telefonanschluß warten; eine in Bonn arbeitende amerikanische Angestellte hat mit eigenen Augen gesehen, wie in einem Gasthaus am Nebentisch eine schon angebissene Wurst serviert wurde. Überhaupt gibt es, laut "Newsweek", in Deutschland kaum noch Kellner, weil Deutsche keine "bad jobs" machen mögen und weil die Arbeitskosten so hoch sind.

Die "Newsweek"-Schelte war für viele deutsche Redaktionen ein willkommener Anlaß, gleichfalls den fehlenden Willen der Deutschen zum fröhlichen Dienen und Bedienen, selbstverständlich zu niedrigen Löhnen und möglichst gleich rund um die Uhr, zu beklagen. Der ständige Hinweis, unser Land könne sich so etwas angesichts von vier Millionen Arbeitslosen nicht länger leisten, zeigt deutlich die Richtung an, in der es weitergehen soll.

Die "Wirtschaftswoche" fungiert als Zentralorgan derjenigen, die heftigst eine Amerikanisierung der deutschen Arbeitswelt propagieren. Dazu gehören:

  • Möglichst wenig tarifvertraglich abgesicherte Arbeitsverhältnisse; maximale Ausweitung irregulärer ("geringfügiger", "kurzzeitiger" usw.) Teilzeitjobs ohne soziale Absicherung. Bespielsweise Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze von jetzt 580 auf 1.000 Mark.
  • Aufhebung sämtlicher zeitlichen Beschränkungen der Arbeit; Öffnungszeiten rund um die Uhr, zuschlagfreie Arbeit auch an Sonn- und Feiertagen. In der Strategie der Wirtschaftsliberalisten bildet der Sturm auf das Ladenschlußgesetz das zentrale Kettenglied, weil darüber die Reglementierung des Arbeitstages ausgehebelt werden soll. Daher der permanente Krakeel in fast allen Medien, obwohl die meisten Einzelhändler sich von längeren Öffnungszeiten keinen relevanten Vorteil versprechen. Freimütig bekennt die "Wirtschaftswoche", daß der Kampf ums Ladenschlußgesetz eigentlich mehr symbolische Bedeutung habe.
  • Längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich.
  • Zerschlagung des Flächentarifsystems; an seine Stelle sollen zunächst betriebliche Vereinbarungen und letzten Endes Individualverträge oder völlig ungeschützte Arbeitsverhältnisse treten.
  • Starke Senkung der Lohnnebenkosten, was gleichbedeutend mit einer entsprechenden Kürzung der staatlichen Sozialausgaben ist.
  • Arbeitszwang für Arbeitslose zum Sozialhilfesatz.
  • Totale Freigabe der Löhne nach unten; jeder Arbeitslose soll sich beliebig unter Tarif anbieten "dürfen" (und müssen); Portugiesen sollen in Deutschland zu portugiesischen, Polen zu polnischen Löhnen beschäftigt werden können.

Die Durchsetzung dieses Programms wird sich jedoch, falls es überhaupt funktioniert, schwierig und langwierig gestalten. Auch dem "Jobwunder" in den USA und Großbritannien ging eine mehrjährige Offensive gegen die Arbeiter und Angestellten durch die Regierungen Reagans und Thatchers voraus. Diese Phase hat in Deutschland, realistisch betrachtet, noch nicht einmal richtig begonnen.

Die sich steigernden Leistungskürzungen und Zwangsvorschriften gegen Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger sollen offenbar - neben der Entlastung der öffentlichen Haushalte - auch dazu dienen, die Rahmenbedingungen von Arbeit überhaupt nach unten zu drücken. Millionen von Arbeitslosen werden mehr und mehr in eine Situation gebracht, wo sie selbst zu niedrigen Löhnen verzweifelt irgendeinen Job suchen, weil sie mit der Sozialhilfe / Arbeitslosenhilfe / Arbeitslosengeld nicht auskommen, oder weil ihnen Entzug der Leistungen angedroht wird, falls sie irgendeinen "angebotenen" Job ablehnen.

Wenn man auf diese Weise mehrere Millionen Menschen dazu zwingt, sich händeringend auf dem Arbeitsmarkt anzubieten, so müßte das nach der Theorie der radikalen Wirtschaftsliberalisten eigentlich ganz schnell dazu führen, daß das allgemeine Lohnniveau und die Arbeitsbedingungen nach unten sacken. Offensichtlich ist dieser Effekt aber bis jetzt noch längst nicht in dem Ausmaß eingetreten, das die Propagandisten der Amerikanisierung fordern.

Beispielsweise: Rein theoretisch kann nach kurzer Zeit jeder Arbeitslose dazu verdonnert werden, einen Job weit unterhalb seiner Qualifikation und seines bisherigen Einkommens anzunehmen. Aber praktisch fehlt eine entsprechend große Nachfrage der Kapitalseite nach gering qualifizierter Arbeitskraft. Genau davon gibt es sowieso schon zuviel.

Oder: Langzeitarbeitslose können verpflichtet werden, Jobs zu "Einsteiger"-Bedingungen unter Tarif und ohne regulären Kündigungsschutz anzutreten. Trotzdem ist die Nachfrage der Unternehmen nach dieser Sorte billigerer Arbeitskräfte äußerst gering; selbst nach Ansicht mancher Soziologen, die sich für links halten, sind Langzeitarbeitslose eigentlich nur noch wandelnde Leichname, für die man nicht mehr viel tun kann.

Weiteres Beispiel: Sozialhilfeempfänger können zwangsweise zu "gemeinnützigen" Arbeiten abkommandiert werden, die ihnen zusätzlich zur Sozialhilfe - auf die sie ohnehin Anspruch hätten - nur ein kleines Taschengeld einbringen. Bisher machen aber die Behörden von dieser Möglichkeit nur in sehr geringem Maß Gebrauch. Ein wesentlicher Grund: Es muß sich um "zusätzliche" Arbeiten handeln, für die normale Arbeitskräfte nicht zur Verfügung stehen. Das bedeutet beispielsweise, daß die Stadt die Müllabfuhr nicht einfach von Sozialhilfeempfängern besorgen lassen kann. "Zusätzliche" Arbeiten bedeuten aber, selbst wenn sie nur mit einem Taschengeld honoriert werden, auch zusätzlichen Verwaltungsaufwand und andere Mehrkosten. Die Vorkämpfer der Amerikanisierung fordern deshalb, diese Schranke zu beseitigen, so daß Zwangsarbeiter zu jeder beliebigen Tätigkeit abkommandiert werden könnten und damit die Löhne in Grund und Boden ruiniert würden. Das hat, nebenbei bemerkt, mit marktwirtschaftlichen Methoden nicht mehr viel zu tun.

Bullen und Knäste statt Sozialleistungen

Letzten Endes ist die Existenz des deutschen Sozialsystems - auch wenn dieses fortlaufend demontiert wird - immer noch ein schweres Hindernis für eine konsequente und umfassende Amerikanisierung. Das US-System beruht darauf, daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von vornherein überhaupt keine andere Chance hat, als jede Gelegenheit zu einem Billigjob zu ergreifen. In Deutschland hingegen könnte dieser Effekt höchstens künstlich, außerökonomisch herbeigeführt werden. Nämlich, indem man Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern mit Leistungsentzug droht, falls sie nicht parieren. Es muß ja davon ausgegangen werden, daß kein vernünftiger Mensch eine qualifizierte Arbeitsanstrengung freiwillig für ein Entgelt vollbringt, auf das er sowieso Anspruch hätte. Es würde aber einen riesigen polizeilichen und verwaltungsmäßigen Aufwand erfordern, den Arbeitseinsatz der Zwangsverpflichteten zu überwachen und durchzusetzen.

Beispielsweise: Rein theoretisch kann man heute einen Hamburger Sozialhilfeempfänger zwingen, im Frühjahr ein paar Wochen einen Kellerraum in der Lüneburger Heide zu beziehen und dort ohne zusätzliche Entlohnung Spargel zu stechen. Aber erstens beschäftigen die Landwirte weiterhin sehr viel lieber polnische Saisonarbeiter, die gezwungenermaßen freiwillig zu ihnen kommen, und zweitens: wie sollen Streitfälle zwischen deutschen Zwangsarbeitern und ihren "Arbeitgebern" über die Arbeitsleistung polizeilich überprüft und juristisch entschieden werden?

Generell setzen immer noch die Sozialleistungen das Niveau, unter das der jeweilige Arbeitslohn nicht gesenkt werden darf. Für die Landwirtschaft und für das Hotel- und Gaststättengewerbe gibt es eine Sonderregelung. Sie läuft darauf hinaus, daß in diesen Bereichen saisonal anstelle von Ausländern auch deutsche Zwangsarbeiter beschäftigt werden können. Dabei zahlt der "Arbeitgeber" nur den Lohn, den bisher "seine" Polen erhielten, während der Staat einen Zuschuß gibt, der die Summe auf die Höhe der Sozialhilfe aufstockt.

Nach diesem Vorbild befürworten einige Amerikanisierer ein allgemeines System staatlicher Lohnzuschüsse. Das würde dazu führen, daß radikale Ausbeuterbetriebe, die Niedrigstlöhne zahlen, zu Empfängern staatlicher Subventionen würden. Das wäre aber ein absolut un-marktwirtschaftliches - insofern also auch denkbar un-amerikanisches - System, und es würde dann vermutlich schnell mehrere sehr aussichtsreiche Klagen wegen unlauteren Wettbewerbs geben.

Ein zusätzliches Problem: Es würde auf jeden Fall einen Zeitraum von mehreren Jahren erfordern, um die minimalen Reproduktionskosten der menschlichen Arbeitskraft so tief sinken zu lassen, daß eine Amerikanisierung der deutschen Arbeitswelt überhaupt möglich würde. Polnischen Arbeitern kann man auf deutschen Baustellen polnische Löhne zahlen, aber nur deshalb, weil sie nach absolvierter Leistung zurück nach Hause geschickt werden. Niemand könnte in Deutschland dauerhaft mit einem polnischen Stundenlohn existieren.

Schwarzarbeit ist ein weiteres zentrales Problem der angestrebten Amerikanisierung. Im Sinne des Wirtschaftsliberalismus wäre es vernünftig und notwendig, gegenüber "illegaler" Arbeit - sofern sie in Maßen stattfindet - beide Augen zuzudrücken. Das macht die Arbeit insgesamt billiger, erlaubt also auch niedrigere Reproduktionskosten der menschlichen Arbeitskraft. Außerdem ist unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten ein Arbeitsloser, der sich initiativ verhält, am Arbeitsleben teilnimmt und sich ein bißchen dazu verdient (und dabei Mehrwert schafft), sehr viel kostengünstiger als einer, der sich nur noch hängen läßt.

Dem steht aber die Tradition des polizeistaatlichen Denkens in Deutschland entgegen. Schwarzarbeiter haben derzeit beste Chancen, zum Volksschädling Nr. 1 zu avancieren. Schon ertönt in den Medien der Ruf nach dem Einsatz von privaten Detektivdiensten neben Polizei, Arbeitsämtern usw. Einmal richtig in Schwung gebracht, werden vermutlich Millionen Deutsche ein traditionelles Hobby wieder entdecken: das Denunzieren. Das Zentralorgan der Amerikanisierer, die "Wirtschaftswoche", hält es für geboten, gegen den Trend zu steuern und vorm Polizeistaat zu warnen. Bonn sei dabei, "ganze Branchen einem bislang unbekannten Überwachungs- und Spitzelsystem auszusetzen". (10.8.95)

Insgesamt ist festzustellen, daß es wahrscheinlich unmöglich sein wird, nur einzelne Bestandteile der amerikanischen Arbeitswelt zu übernehmen, ohne erst einmal sämtliche dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Beispielsweise, um an einem zentralen Punkt anzufangen: Eine Gesellschaft, in der sehr viel weniger Steuern und Sozialabgaben bezahlt werden, ist untrennbar verbunden mit einem System, in dem der Staat kaum noch Sozialleistungen übernimmt. Und andererseits: Nur in einem solchen System halten Menschen selbst den miesesten Job noch für einen Glücksfall, der Dankbarkeit verdient.

Logischerweise geht denn auch das "amerikanische Jobwunder" direkt einher mit einer weiter explodierenden Staatsverschuldung. Hinter Clinton lauern schon die Republikaner, die die Überreste der staatlichen Wohlfahrt noch einmal um 60 bis 100 Milliarden Dollar kürzen wollen und die sie langfristig völlig auf private Organisationen übertragen wollen. Indem die Steuern - vor allem auf Kapitaleinkünfte - immer weiter gesenkt werden, soll der Staat gezwungen werden, "sich auf das Nötigste zu beschränken". Nach Lage der Dinge werden das in erster Linie Polizei, Gefängnisse und Armee sein.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 1. Juni 1996