KNUT MELLENTHIN

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Jugoslawien: NATO-Intervention rückt näher

Seit dem 24. November haben die sieben Kriegsschiffe der NATO und fünf der WEU vor der jugoslawischen Küste einen Schießbefehl. Ausgenommen davon sind die Einheiten der deutschen Marine. Für unsere Politiker ist das ein Anlaß, wieder einmal die zweitklassige Rolle zu beklagen, die sich daraus ergibt, daß der Bundeswehr die Teilnahme an internationalen Militäraktionen per Grundgesetz und wegen historischer Altlasten versagt ist.

Kriegsschiffe und Militärflugzeuge mehrerer westeuropäischer Staaten, einschließlich der BRD, sind seit Mitte Juli in der Adria stationiert. Ihr Auftrag: Überwachung der am 31. Mai vom UNO-Sicherheitsrat verhängten Blockade gegen Neu-Jugoslawien (Serbien und Montenegro). Bisher war ihr Überwachungs-Auftrag nur symbolischer Natur gewesen. Sie hatten keine Vollmacht, blockadebrechende Frachtschiffe tatsächlich anzuhalten und eine Durchsuchung zu erzwingen. Wie es heißt, hatte etwa die Hälfte aller vorbeifahrenden Schiffe auf die Aufforderung, ihre Ladung zu nennen, überhaupt nicht geantwortet. Es seien zahlreiche Fälle von offenem Blockadebruch beobachtet worden. Andererseits wurde aber auch festgestellt, daß der Seeschiffsverkehr mit Jugoslawien seit Beginn der Überwachung um 70 Prozent zurückgegangen ist.

Durch Beschluß des UNO-Sicherheitsrats vom 17. November (bei Enthaltung Chinas und Simbabwes) kann die Blockade vor der jugoslawischen Küste nun auch militärisch durchgesetzt werden. Alle "verdächtigen" Schiffe sollen durchsucht werden. Wird das verweigert, kann das Schiff durch einen Schuß vor den Bug (oder schlimmstenfalls auch durch direkten Beschuß) gestoppt werden. Diese Regelung trat am 24. November in Kraft und wurde auch sofort praktiziert. Der erste durchsuchte Frachter fuhr unter syrischer Flagge und war auf dem Weg zum nordkroatischen Hafen Rijeka. Daran wird deutlich, daß die Kriegsschiffe in der Adria offensichtlich nicht nur den allgemeinen Handelsboykott gegen Serbien und Montenegro überwachen, sondern auch das Waffenembargo, das von der UNO schon im Sommer 1991 gegen das gesamte Gebiet des früheren Jugoslawien verhängt wurde.

Eine Gefahr unmittelbarer militärischer Zwischenfälle besteht auch durch den Schießbefehl kaum. Es ist davon auszugehen, daß generell nicht einmal ein Warnschuß nötig sein wird, um die Durchsuchung von Frachtschiffen zu erzwingen. Die jugoslawische Marine, die im Herbst 1991 noch stark an den Kämpfen im süddalmatinischen Küstenbereich beteiligt war, scheint sich völlig aus der Adria in die Bucht von Kotor (Montenegro) zurückgezogen haben, so daß Konfrontationen mit der NATO-WEU-Flotte, selbst zufällige, vermutlich ausgeschlossen sind.

Noch in der Diskussionsphase des neuen UNO-Beschlusses war davon die Rede, daß sich die deutsche Marine dann wohl von der Blockade ganz zurückziehen müßte. So jedenfalls ein Bericht in der "Süddeutschen Zeitung" vom 14. November unter Berufung auf Regierungskreise. Beschlossen wurde aber doch, weiter im Blockade-Verband zu bleiben - zur Zeit mit dem Zerstörer "Hamburg" -, sich jedoch nicht an der verschärften Kontrolle zu beteiligen, sondern nach wie vor nur Überwachungsaufgaben wahrzunehmen.

Es kann gut zurückverfolgt werden, daß die ursprüngliche Idee zum Flotten-Einsatz in der Adria maßgeblich von der deutschen Regierung vorangetrieben worden war. (Siehe Artikel in ak 345 und 346) Wurde so doch erstmals eine scheinbar gleichberechtigte Teilnahme deutscher Streitkräfte an einer internationalen Militäraktion ermöglicht und damit ein Tor aufgestoßen, an das man schon seit längerem immer wieder heftig geklopft hatte. Die Verschärfung der Blockade, angeblich vor allem auf Initiative von Großbritannien und den USA zustande gekommen, reduziert die deutsche Rolle jedoch wieder und macht deutlich, daß die BRD von der militärischen Großmacht, die sie gern sein möchte, immer noch weit entfernt ist.

Einige Politiker der CDU/CSU, darunter angeblich auch der Kanzler, hätten die Gelegenheit gern benutzt, um neue Fakten zu setzen. Nach ihrer Ansicht hätte sich die Bundesmarine an der Blockade auch in ihrer militärisch verschärften Form voll weiterbeteiligen sollen, mit der Behauptung, dies sei durchaus "verfassungskonform". Man hätte es dann auf eine Klage der SPD ankommen lassen sollen. Das widerspricht aber dem Kurs derjenigen in CDU und FDP, die lieber gemeinsam mit der SPD das Grundgesetz ändern wollen, statt im Hauruck-Verfahren Konfrontationen um jeden Preis herbeizuführen.

Verteidigungsminister Rühe (CDU), in den Relationen seiner Partei betrachtet eher ein Gemäßigter, war einiger Kritik ausgesetzt wegen seiner Festlegung, deutsche Kriegsschiffe derzeit nicht an militärischen Kontrollaktionen in der Adria teilnehmen zu lassen. Er suchte daraufhin die Flucht nach vorn, indem er erklärte, er sei zwar im Prinzip für einen gemeinsamen Weg mit der SPD durch Änderung des Grundgesetzes. Sollte das aber nicht möglich sein, müßte die volle Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Militäraktionen durch ein "Entsendegesetz" legalisiert werden. Dafür würde dann die einfache Mehrheit der Regierungskoalition ausreichen. Ihm widersprach Außenminister Kinkel (FDP): Man müsse in dieser Frage mit der SPD einen Konsens finden, "Sonderwege" kämen für seine Partei nicht in Frage.

Die veränderte Situation in der Adria bedeutet zwar für die deutschen Pläne nach voller militärischer Gleichberechtigung einen kleinen Rückschlag. Letzten Endes wird das aber wohl bis weit in die SPD hinein die Bereitschaft und den Willen steigern, auch diese letzten Schranken noch zu überwinden und zumindest den Weg für Bundeswehr-Einsätze im Auftrag der UNO zu öffnen.

Vor allem das Elend der bosnischen Bevölkerung, derzeit besonders der vergewaltigten Frauen, muß gnadenlos herhalten, um allgemeinen, schon lange gehegten militärischen Ambitionen den Anschein einer unausweichlichen moralischen Verpflichtung zu verleihen. Dabei ist offensichtlich, daß den Menschen dort überhaupt nicht durch die Präsenz eines deutschen Kriegsschiffes in der Adria zu helfen ist, sondern daß ihnen vor allem mit einer großzügigeren Aufnahmepolitik zu nützen wäre. Es ist moralisch absolut nicht zu rechtfertigen, daß die Bundesregierung ekelhaft kleinlich um die Aufnahme von 1000 oder 2000 zusätzlichen Flüchtlingen feilscht, während in Bosnien-Hercegovina etwa eine Million Menschen auf der Flucht sind und nicht wissen, wie und ob sie den Winter überleben werden.

Die NATO-Gremien beraten dieser Tage angesichts der ausweglos scheinenden Kriegslage in Jugoslawien wieder einmal über eine direkte Militärintervention. Nach Presseberichten geht es dabei um vier unterschiedliche Optionen, die im Prinzip alle seit Monaten bekannt sind und schon ein paar mal verworfen wurden:

  1. Der Einsatz von Kampfflugzeugen zur Durchsetzung des Flugverbots über Bosnien-Hercegovina. Dieses war, maßgeblich auf Initiative der USA, im Oktober von der UNO verhängt worden. Es richtet sich gegen die Luftwaffe der bosnischen Serben, soll deren Eingreifen in die Kämpfe verhindern. Der Beschluß vom Oktober sieht allerdings eine militärische Erzwingung nicht vor. Nach Angaben von UNO-Beobachtern hat die serbische Luftwaffe in Bosnien das Verbot weit über hundert mal mißachtet.
  2. Bombardierung serbischer Stellungen.
  3. Die Einrichtung von Schutzzonen für die Opfer der "ethnischen Säuberung", in erster Linie also die bosnischen Muslime.
  4. Die partielle Aufhebung des Waffenembargos zugunsten der Regierung in Sarajevo, um vor allem den militärisch unterlegenen Muslim-Streitkräften den Erwerb schwerer Waffen zu ermöglichen. Darauf drängen seit Monaten besonders die islamischen Staaten, zu deren Sprecherin in dieser Sache sich die türkische Regierung gemacht hat.

Wieweit sind diese Optionen realistisch und welche Risiken einer stärkeren Verwicklung der NATO in den Konflikt würden sie enthalten?

  • Die militärische Durchsetzung des Flugverbots wäre wahrscheinlich ohne direkte Konfrontation und Gewaltanwendung möglich. Die bloße Drohung könnte ausreichen, da die Serben angesichts ihrer Überlegenheit und der für sie günstigen Kriegslage nicht auf den Einsatz ihrer Flugzeuge und Hubschrauber angewiesen sind. Anscheinend neigen auch NATO-Mitglieder wie Großbritannien, die bisher jeder Form von Intervention ablehnend gegenüberstanden, derzeit dieser Option zu, da sie am wenigsten problematisch ist und doch den Anschein von Aktivität erweckt.
  • Serbische Stellungen zu bombardieren, wäre per se eine direkte Kriegshandlung und stellt daher eine extreme, unwahrscheinliche Option dar. Sie könnte von denjenigen NATO-Mitgliedern, die keine wesentliche Schwächung Serbiens und auch nicht dessen völlige Isolierung wollen (Frankreich, Großbritannien, USA), schwerlich gutgeheißen werden.
  • Die Einrichtung von Schutzzonen könnte unproblematisch sein, wenn sie in Gebieten erfolgen würde, die ohne kriegsstrategische Bedeutung sind und an denen die Serben ohnehin nicht interessiert sind. Anderenfalls müßte sie durch NATO-Truppen militärisch erzwungen und für einen längeren Zeitraum abgesichert werden. Gegen ein solches Kriegsszenario - Verwicklung in einen längeren Bodenkrieg - haben sich bisher sämtliche NATO-Militärs ganz entschieden ausgesprochen.
  • Eine Lockerung des Waffenembargos zugunsten der Muslime schließlich ist bisher in den NATO-Staaten ebenfalls auf allgemeine Ablehnung gestoßen. Es fragt sich auch, wem es jetzt, da die muslimische Verteidigung schon weitgehend zusammengebrochen ist, noch nützen könnte.

Eine militärische Intervention in Bosnien-Hercegovina wird in erster Linie von den rund 50 islamischen Staaten gefordert, mit der Begründung, die drohende Vernichtung der muslimischen Volksgruppe verhindern zu müssen. In diesem Sinn hat die Islamische Weltkonferenz (OIC) Anfang Dezember erneut vom UNO-Sicherheitsrat gefordert, umgehend "alle notwendigen Maßnahmen", einschließlich der Anwendung von militärischer Gewalt, zu ergreifen, um ein Ende der Kämpfe zu erzwingen. Außerdem wurde die Aufhebung des Waffenembargos zugunsten der Muslime gefordert und deren Unterstützung durch alle Staaten der OIC proklamiert. Indessen sind, wie so oft in der Politik der islamischen Staaten, und wie es auch die Palästinenser immer wieder erfahren haben, Worte wohl nicht gleichbedeutend mit Taten. Ihre Unterstützung für die bosnischen Muslime war bisher gering und wird es vermutlich auch künftig bleiben. Auch die Massen muslimischer Freiwilliger aus aller Welt, die heldenhaft an der Seite ihrer bosnischen Brüder kämpfen, existieren wohl eher in der Phantasie einiger Teheraner und Belgrader Journalisten als in der Realität.

Dennoch geht von den Forderungen der islamischen Staaten, insbesondere auch des NATO-Mitglieds Türkei, ein gewisser Druck auf die "westliche Gemeinschaft" aus, immer wieder mit irgendwelchen neuen Aktivitäten aufzuwarten. Bisher hatte die Ansicht vorgeherrscht, wohlkalkulierter, aber nicht übermäßig heftiger Druck auf Serbien würde schließlich zu einem politischen Wandel in Belgrad und zu einem Ende der Kämpfe führen. Hoffnungsträger dieser Politik ist der aus den USA eingeflogene jugoslawische Regierungschef Panic, dem es bisher aber nicht wie erhofft gelungen ist, den Machtkampf gegen den serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic für sich zu entscheiden. Jetzt richtet sich die Aufmerksamkeit der "westlichen Gemeinschaft" auf den 20. Dezember. An diesem Tag wird der serbische Präsident neu gewählt, und Panic kandidiert gegen Milosevic. Sollte dieser sich behaupten, wird man das vermutlich als Zeichen interpretieren, daß die Hoffnung auf ein absehbares Ende des Kriegs auf dem Balkan kaum noch Aussichten hat. Eine stärkere Einmischung der NATO, vermutlich aber erst im kommenden Frühjahr, sofern dann immer noch gekämpft wird, wäre damit etwas näher gerückt.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 16.12.1992