KNUT MELLENTHIN

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Georgien: Die Opposition ruft zum Sturm aufs Parlament auf – und riskiert eine Spaltung

Tausende Georgier – die Angaben der Nachrichtenagenturen liegen zwischen 20.000 und 50.000 - haben am Montag vor dem Parlament in Tbilissi gegen die ihrer Ansicht nach „gefälschte“, „illegale“ Wahl vom 21. Mai demonstriert. Am Nachmittag riefen die Veranstalter die Menge dazu auf, nach Hause zu gehen und zur Parlamentseröffnung in spätestens zwei Wochen wieder zu erscheinen. Zuvor hatten sie der Regierung angedroht, den Platz nicht zu räumen und Verstärkung aus dem ganzen Land in die Hauptstadt zu holen, falls die Wahlen nicht für ungültig erklärt und wiederholt werden.

Nach einer Zwischenzählung liegt die seit vier Jahren alleinregierende Nationalpartei von Präsident Saakaschwili mit ungefähr 59 Prozent weit vor dem aus neun Parteien bestehenden Wahlbündnis Vereinigte Opposition mit etwa 16 Prozent, den Christdemokraten mit 8,5 und der Arbeitspartei mit 7,5 Prozent. Alle anderen Parteien sind an der Fünf-Prozent-Klausel gescheitert. Darunter mit 3,7 Prozent die Republikaner, die sich kurz vor der Wahl von der Vereinigten Opposition getrennt hatten, weil sie deren kompromisslosen Konfrontationskurs gegen die Regierung nicht hundertprozentig teilen. Da die Nationalpartei 71 der 75 Direktmandate gewonnen hat, wird sie im neuen Parlament mit 120 von 150 Abgeordneten vertreten sein und somit wieder über eine bequeme Zweidrittel-Mehrheit verfügen.

Die Proteste hatten am Vormittag mit einer Kundgebung vorm Sportpalast begonnen. Von dort zogen die Demonstranten zur Rustaweli Avenue, wo anlässlich des Unabhängigkeitstages eine Militärparade stattfand. Die ursprüngliche Absicht der Organisatoren war gewesen, die Soldaten in politische Diskussionen zu verwickeln und deutlich zu machen, dass die Streitkräfte nicht der Regierung, sondern dem Volk verpflichtet sind. Damit liefen sie aber ins Leere, weil Teilnehmerzahl und Dauer der Parade stark reduziert worden waren. Auch der Präsident hielt nur eine kurze Ansprache Dadurch war die Veranstaltung beim Eintreffen des Protestzugs schon beendet. Die Polizei hob die Absperrungen auf, so dass die Demonstranten ungehindert vors Parlament gelangen konnten.

Die Vereinigte Opposition hat zum Boykott des Parlaments aufgerufen und angekündigt, dass ihre gewählten Abgeordneten den Sitzungen fern bleiben werden. Die Arbeitspartei hat sich dieser Taktik vorbehaltlos angeschlossen. Die Christdemokraten hingegen haben sich noch nicht definitiv entschieden. Sie äußeren sich skeptisch über Nutzen und Nachteile eines Boykotts, haben andererseits aber erkennen lassen, dass sie sich nicht an einem Parlament beteiligen würden, in dem außer ihnen nur die Nationalpartei vertreten ist.

Die Vereinigte Opposition plant für den Tag der Parlamentseröffnung, die spätestens bis zum 10. Juni stattfinden muss, eine Massenkundgebung, die die Sitzung verhindern soll, „selbst wenn wir dazu das Parlament stürmen müssen“, wie der Spitzenpolitiker des Bündnisses, Lewan Gachechiladse, am Montag den Demonstranten zurief. „Es ist ausgeschlossen, dass wir eine Handvoll Verbrecher unser Land regieren lassen.“ - Es gebe in Georgien zur Zeit weder einen rechtmäßigen Präsidenten noch ein rechtmäßiges Parlament, erklärte Davit Gamkrelidse, der Vorsitzende Neuen Rechtspartei, auf der Kundgebung. Die Opposition plane deshalb die Einberufung eines alternativen Parlaments, das in nächster Zeit seine erste Sitzung abhalten werde. Gubas Sanikidse vom ebenfalls zum Bündnis gehörenden Nationalen Forum steigerte die radikale Rhetorik noch: „Das illegale Parlament wird nicht zusammentreten, und wenn dazu Gewalt notwendig ist, werden wir sie anwenden.“

Unterdessen hat Saakaschwili deutlich gemacht, dass er darauf setzt, die offensichtlich uneinheitliche Opposition an dieser Frage spalten zu können. Dafür soll vor allem die auch bei den Oppositionsparteien angesehene und einflussreiche orthodoxe Kirche als Vermittlerin eingespannt werden. Schon unmittelbar nach der Wahl hatte der Präsident versprochen, dass die Nationalpartei auch im Fall einer Zweidrittel-Mehrheit keine Verfassungsänderungen ohne Beratung mit der Opposition durchsetzen werde. Überhaupt wolle er sein Bestes tun, „um der Opposition mehr Kontrollhebel über die Regierung zu sichern“ und ihr „die Möglichkeit zu geben, an der Herrschaft über das Land teilzuhaben“. Damit könnte er die Christdemokraten und die Republikaner auf seine Seite ziehen

Knut Mellenthin

Erweiterte Fassung eines am 27. Mai 2008 in der Jungen Welt erschienenen Artikels