KNUT MELLENTHIN

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Gregor Gysi textet das "Solidaritätslied" neu

Es geschieht selten, dass sich die Mainstream-Medien an herausragender Stelle mit Geschehnissen in der Linkspartei beschäftigen. Meist beschränkt sich die Berichterstattung auf Gelegenheiten, wo der LINKEN geschadet werden kann, wie im Fall der niedersächsischen Landtagsabgeordneten Christel Wegner und ihrer ungeschickten Äußerungen zur DDR-Stasi. Noch seltener finden Veranstaltungen der Partei-eigenen Rosa-Luxemburg-Stiftung den Weg in die Medien. Hätte sich Gregor Gysi am 14. April in seinem Vortrag im Wesentlichen darauf beschränkt, für einen "in jeder Hinsicht lebensfähigen Staat Palästina" und für "die Auflösung der meisten Siedlungen" in den seit 1967 besetzten Gebieten zu plädieren - kein Hahn hätte danach gekräht.

Tatsächlich, der Fraktionsvorsitzende hat in seiner 16 Seiten langen Rede über "Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel" auch davon gesprochen, dass Israel "Unrecht begangen" und "des öfteren das Völkerrecht verletzt" habe. In genau drei Absätzen. Vor allem aber hat Gysi, und das sicherte ihm Aufmerksamkeit und Beifall der Medien, zur "Solidarität mit Israel" aufgerufen und nebenbei den Antiimperialismus als völlig veraltete Ideologie auf den Abfallhaufen der Geschichte gekarrt.

Es ist eine sehr ausgedehnte, ausschweifende Ansprache. Aber nur ganz selten, an wenigen verstreuten Stellen, kommt der Redner wirklich zur Sache. Wovon ist stattdessen die Rede? Beispielsweise beschäftigt sich ein umfangreicher Exkurs mit dem preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz (1780 - 1831). Seine Feststellung, Krieg sei "eine bloße Fortsetzung der Politik unter Einbeziehung anderer Mittel" gehört zur deutschen Allgemeinbildung. Viel mehr aber auch nicht. Gysi äußert sich "erstaunt", "dass Clausewitz’ Philosophie des Krieges (...) bei bestimmten Konfliktbeurteilungen für die Linke keine Rolle zu spielen scheint", unternimmt aber in der gesamten Rede keinen Versuch, die Theorien des preußischen Napoleon-Gegners zur Interpretation des Israel-Palästina-Konflikts und der israelischen Kriegspolitik im weiteren Sinn zu nutzen. Wie andere "philosophische" Exkurse in Gysis Rede dient auch der Clausewitz-Abschnitt vornehmlich der Selbstdarstellung und der Ablenkung von den realen Fragen.

Ein weiterer Exkurs beschäftigt sich mit der Legitimierung des Zionismus: Der deutsche Völkermord an den Juden habe die "Grundannahme" des Zionismus als richtig erwiesen und somit die Gründung Israels "zwingend erforderlich" und "alternativlos" gemacht, behauptet Gysi. Das ist jedoch falsch: Die "Grundannahme" von Theodor Herzl und seinen Nachfolgern, dass ein Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden in einem Staat unmöglich sei, ist durch die Entwicklung seit 1945 widerlegt. Dagegen spricht auch der Holocaust nicht. So wenig wie zwei Weltkriege mit Dutzenden Millionen Toten und zahlreiche Kriege seit 1945 die These beweisen würden, dass friedliche Koexistenz zwischen Staaten unmöglich sei.

Gysi sagt an einer offenbar kaum bemerkten Stelle, dass das viel strapazierte Thema des israelischen "Existenzrechts" in Wirklichkeit die "Frage nach der Legitimität der Entstehung des Staates Israel" ist. Damit hat er durchaus Recht. Und dieser weithin unverstandene Kontext erklärt nachvollziehbar, warum die Palästinenser sich mit dem so gemeinten "Existenzrecht" des expansiven Besatzerstaates sehr schwer tun. Die Gründung Israels hatte die Vertreibung von über 700.000 arabischen Landesbewohnern zur Voraussetzung. Sie hat darüber hinaus eine offene Wunde in der Region hinterlassen, ohne dass dauerhafte politische Lösungen in Sicht sind. Insbesondere haben alle israelischen Regierungen seit 1967 die Gründung eines lebensfähigen Palästinenserstaates planmäßig verbaut, so dass sie heute bereits nahezu unmöglich ist. Gysi, der sonst gern als Realpolitiker antritt, verliert darüber kein einziges Wort.

Ebenso wenig füllt er das Zentralthema seiner Rede, die "Solidarität mit Israel", mit Inhalten. Ihm scheint nicht einmal bewusst zu sein, dass Solidarität MIT jemandem immer auch Solidarität GEGEN jemanden impliziert. Anderenfalls ginge es nur um eine folgenlose Emotion, die mit dem Wort "Solidarität" ganz falsch bezeichnet wäre. Was bedeutet die plakative Parole "Solidarität mit Israel" kurz vor einer seit Monaten vorbereiteten Großoffensive gegen die Bevölkerung des Gaza-Streifens? Was bedeutet "Solidarität mit Israel" angesichts der Drohungen, sich erneut militärisch im Libanon einzumischen? Was heißt "Solidarität mit Israel" am Vorabend eines (vielleicht durch einen israelischen "Präventivschlag" eingeleiteten) US-amerikanischen Krieges gegen Iran, der voraussichtlich unter dem verlogenen Motto geführt werden wird, es gelte "einen zweiten Holocaust zu verhindern"?

Bedeutet "Solidarität mit Israel" lediglich, dass man zu den amerikanisch-israelischen Kriegen schweigt oder sich auf ein paar pflichtschuldige Worte des Bedauerns in Nebensätzen beschränkt, während im Hauptsatz das "legitime Selbstverteidigungsrecht" Israels von Auschwitz her gerechtfertigt wird, als wären Libanesen, Palästinenser oder Iraner die Schuldigen am Holocaust? Oder bedeutet es auch aktivere, explizite Formen der Unterstützung?

Noch weiß wahrscheinlich kaum jemand, woran er bei Gysi und seinem neuen Kurs, der jetzt der gesamten Partei aufgedrückt werden soll, eigentlich ist. Dort, wo der Gysi konkret werden müsste, bleibt er verschwommen bis zur Unkenntlichkeit. Und das, darf man wohl unterstellen, ist bei einer XXL-Rede von 16 Seiten, die sogar den ollen Clausewitz Revue passieren lässt und en passant Lenins Imperialismustheorie für erledigt erklärt, nicht als Ungeschicklichkeit zu entschuldigen oder misszuverstehen. Eher will sich anscheinend der Redner nicht vorzeitig in die Karten blicken lassen.

Aber hat, wenn man sich auf Gysis Argumentationskette mit historischer Verantwortung, Staatsräson und Regierungsfähigkeit erst einmal einlässt, nicht die Bundeskanzlerin Recht, die am 18. März in der Knesset, den Blick fest auf die kommende Konfrontation mit Iran gerichtet, erklärte: "Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben."

Vor dieser Herausforderung wird irgendwann in nicht allzu ferner Zeit auch DIE LINKE stehen, wenn sie dem von Gysi eingeschlagenen neuen Kurs folgt. "Alle Mitglieder und Akteure der LINKEN müssen sich zur Rede von Gregor Gysi verhalten", forderte Petra Pau am 5. Mai auf einer Veranstaltung des pro-zionistischen Arbeitskreises Shalom der Parteijugend. Dass sie dabei eine kritische Auseinandersetzung im Blick hatte, ist nicht anzunehmen. Jedenfalls deutete ihre eigene Rede überhaupt nicht darauf hin. Aber richtig verstanden sollten alle Mitglieder der Partei Paus Appell ernst nehmen.

Knut Mellenthin

Erweiterte Fassung eines Artikels in der Juni-Ausgabe der SOZ

Zum selben Thema:

Staatsräson und Regierungsbeteiligung - Stellungnahme von Ulla Jelpke (MdB), Sahra Wagenknecht (MdEP), Ellen Brombacher und anderen zur Gysi-Rede
http://die-linke.de/partei/zusammenschluesse/kommunistische_plattform_der_partei_die_linke/dokumente/staatsraeson_und_regierungsbeteiligung/

Stellungnahme von Mitgliedern des Gesprächskreises "Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung" zur Gysi-Rede
http://www.jungewelt.de/2008/05-21/019.php