KNUT MELLENTHIN

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Das "Fenster der Gelegenheit" bleibt zu

Israel und die Palästinenser spielen wieder einmal Friedensverhandlungen, an die keine Seite wirklich glaubt.

Nach Arafats Tod im November vorigen Jahres sind die Gespräche zwischen der israelischen Regierund und der Palästinenserführung wieder in Gang gekommen, die Scharon im Herbst 2003 abgebrochen hatte. Wieder einmal, wie im Jahr 2003, dient das Geschwätz über einen "zum Greifen nahen" Friedensschluss im Nahen Osten dem amerikanischen Präsidenten dazu, einen geplanten Militärkonflikt in der Region propagandistisch zu flankieren. Damals war es der Überfall auf den Irak, jetzt ist es die geplante Bombardierung iranischer Industrieanlagen.

Worüber wird verhandelt?

Wenn die israelisch-palästinensischen Verhandlungen, wie vorauszusehen, scheitern, wird wieder die alte Litanei zu hören sein, dass die Palästinenser eine große historische Chance verpasst hätten. Sie lehnen jede Lösung ab, selbst wenn es die allergroßzügigste ist und Israel sie ihnen auf dem Silbertablett serviert, wird es dann wieder einmal heißen.

Es ist deshalb zweckmäßig, sich jetzt schon klar zu machen, worüber derzeit überhaupt verhandelt wird - und worüber nicht.

Likud-Chef Ariel Scharon hat im Herbst 2003, als die unter der Obhut der US-Regierung geführten "Road Map" Gespräche in einer Sackgasse steckten, einen alten israelischen Plan aufgegriffen, der seine Anhänger sowohl in der sozialdemokratischen Arbeitspartei als auch im rechten Likud hatte, aber der bis dahin nicht aus dem Stadium unverbindlich theoretischer Überlegungen hinaus gekommen war: die Räumung des Gaza-Streifens.

Die Argumente liegen auf der Hand: Gaza war im historischen, religiösen und ideologischen Sinn niemals Teil des Landes, auf das der Zionismus Anspruch erhebt. Selbst zur Zeit der größten Ausdehnung des alten Königreichs Israel lag die Küstenebene bei Gaza außerhalb der Staatsgrenzen. Es gibt in Gaza überhaupt keine Orte, die in positiver Weise mit der biblischen Geschichte verbunden sind.

Im Gaza-Streifen gibt es ungefähr 8.000 jüdische Siedler, um Jerusalem herum und im besetzten Westjordanland an die 250.000. Die finanziellen und militärischen Kosten für die Verteidigung der wenigen verstreuten Siedlungen im Gaza-Gebiet stehen zum strategischen Nutzen in keinem rationalen Verhältnis. Gaza ist de facto unkontrollierbar, demographisch und wirtschaftlich für die Besatzungsmacht eine ungeheure Last. Das Gebiet, nur halb so groß wie die Fläche des Stadtstaates Hamburg, ist mit 1,4 Millionen Einwohnern das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt, dabei ohne nennenswerte ökonomische Ressourcen. Und da der Gaza-Streifen nur 8 bis 10 Kilometer breit ist, können israelische Militärfahrzeuge auch nach einem Abzug jeden Punkt in Minutenschnelle erreichen.

Das "Licht der neuen Realitäten"

Im April 2004 legte Scharon seinen Gaza-Rückzugsplan offiziell der US-Regierung vor, die schon die bloße Absichtserklärung großzügig honorierte. Dazu gehörte eine Stellungnahme von Präsident George W. Bush, deren Kernsatz lautete: "Im Licht der neuen Realitäten, einschließlich der schon existierenden großen israelischen Bevölkerungszentren" in den besetzten Gebieten, sei es "unrealistisch", einen vollständigen Abzug Israels aus den seit dem Junikrieg 1967 besetzten Gebieten zu erwarten. Jede endgültige Verhandlungslösung müsse "auf gegenseitig vereinbarten Veränderungen beruhen, die diesen Realitäten entsprechen". Bush' Stellungnahme enthielt außerdem erstmals eine klare Absage an das von den Palästinensern geforderte Recht auf Rückkehr für die Flüchtlinge: Diese könnten im Gaza-Streifen und auf der Westbank angesiedelt werden, aber keinesfalls in Israel.

Auf Anraten der amerikanischen Regierung erweiterte Scharon seine Abzugsankündigung um vier winzige Siedlungen am Nordrand des besetzten Westjordanlandes mit insgesamt 500 Bewohnern. Diese Siedlungen sollen aufgelöst werden - und seither ist im offiziellen Sprachgebrauch die Rede vom geplanten "Abzug aus Gaza und Teilen der Westbank", um die großzügige israelische Vorleistung im günstigsten Licht erscheinen zu lassen. Die israelische Regierung hat schon angekündigt, dass sie sich nach Abschluss des Abzugs aus Gaza von der UNO bestätigen lassen will, dass sie dort nicht mehr Besatzungsmacht und also jeder Verantwortung ledig ist - obwohl Israel auch künftig sämtliche Außengrenzen des Gebiets, einschließlich der See und des Luftraums, überwachen will und sich ausdrücklich das Recht für Militäraktionen vorbehält.

Seither ist fast ein Jahr vergangen, ohne dass die israelische Regierung praktische Schritte unternommen hat, um den Abzug aus dem Gaza-Gebiet vorzubereiten. In der Zwischenzeit ist die ultrarechte Opposition, die bis weit in den Likud und seine traditionellen nationalreligiösen Bündnispartner hinreicht, nicht untätig geblieben. Obwohl der angekündigte Abzug in keiner Weise die Substanz des zionistischen Anspruchs auf das Territorium des "biblischen Israel" berührt, hat er schon im Vorfeld einen chauvinistischen Aufruhr entfacht, der in keinem Verhältnis zum Anlass steht. Siedler kündigen gewaltsamen Widerstand gegen die Räumung an, extremistische Rabbis rufen die Soldaten zur Befehlsverweigerung auf, Regierungsmitglieder erhalten Dutzende von hasserfüllten Drohbriefen. Und analog zur Situation vor der Ermordung des sozialdemokratischen Regierungschefs Jizchak Rabin 1995, die das Ende der Oslo-Friedensverhandlungen bedeutete, wird jetzt von Mordplänen der Ultrarechten gegen Scharon gesprochen.

Stillhalteabkommen für den Gaza-Abzug

Die Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen soll bis Ende dieses Jahres abgewickelt sein. Die Gegner des Abzugs fordern zuvor eine Volksabstimmung. Scharon hat das von Anfang an abgelehnt, aber die Befürworter eines Referendums sind auch in seiner eigenen Likud-Partei stark. Einige Sprecher der Siedlerbewegung versprechen, dass es - sofern der Abzugsplan in einer Volksabstimmung gebilligt würde - keinen gewaltsamen Widerstand gegen die Räumung geben werde. Andere Teile der Siedlerbewegung halten diese Ankündigung für Verrat und erklären jetzt schon, sich daran nicht gebunden zu fühlen.

In diesem Kontext sind die israelisch-palästinensischen Verhandlungen zu sehen, die seit dem Tod Arafats im November vorigen Jahren in Gang gekommen sind. Scharon will bis zum Abzug aus Gaza Ruhe an dieser Front. Denn palästinensische Anschläge und Angriffe, wie der Raketenbeschuss der jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen, auch wenn dabei fast ausschließlich Sachschaden angerichtet wird, würden das innenpolitische Klima Israels in der ohnehin angespannten, komplizierten Situation weiter anheizen.

Scharon will also ein Stillhalteabkommen mit den Palästinensern wenigstens bis Jahresende. Als Gegenleistung bietet er einige kleine Gesten, wie die Freilassung von zunächst 500 politischen Gefangenen, denen keine gewalttätigen Aktionen vorgeworfen werden und deren Haftzeit schon zu mehr als zwei Dritteln verbüßt sein muss. Zur Vorbereitung dieser humanen Geste nimmt die israelische Polizei jetzt in den besetzten Gebieten verstärkt Palästinenser fest, um sie später demonstrativ freilassen zu können. Das Ritual ist eingespielt - es wurde auch während der Oslo-Verhandlungen der 90er Jahre und während der Road-Map-Gespräche im Jahr 2003 praktiziert.

Mit seiner Bereitschaft, einen förmlichen Waffenstillstand mit der palästinensischen Führung zu schließen, der kürzlich beim Gipfeltreffen mit Präsident Mahmud Abbas im ägyptischen Scharm-el-Scheik vereinbart wurde, und mit dem tatsächlichen Verzicht auf Mordaktionen gegen Kader der militanten Organisationen geht Scharon allerdings weiter als bisher. Was der Likud-Chef jedoch nicht will, ist eine Neuauflage von Friedensverhandlungen, nicht einmal in der von der US-Regierung vor zwei Jahren in Gang gebrachten, für die palästinensische Seite nicht wirklich akzeptablen Form der Road-Map-Gespräche.

Keine Gespräche über die Zukunft der Westbank

In diesem Punkt ist Scharon kategorisch und kompromisslos. Nicht einmal die Illusion, es gäbe eine neue Runde von Friedensverhandlungen, will er zulassen. Ein einseitiger Abzug aus Gaza ja, aber keine Gespräche über die Zukunft der Westbank, das stellt er immer wieder explizit klar.

Scharon wird, soweit es die Regierungen der USA, der EU oder beispielsweise auch Russland angeht, mit dieser Haltung problemlos durchkommen. Das Jahr 2005 wird, bestenfalls, im Zeichen des Abzugs aus Gaza, einschließlich der Auflösung der dortigen jüdischen Siedlungen, stehen. Mehr werden Amerikaner und Europäer in dieser Zeit von Scharon nicht fordern, immer mit der Begründung, dass man alles vermeiden müsse, was Israels Ultrarechte und die Siedlerbewegung noch weiter aufbringt.

Scharon wird, beispielsweise, in den kommenden Monaten nicht nach den sogenannten illegalen Außenstellen gefragt werden, deren Auflösung er schon vor zwei Jahren versprochen hatte. Es handelt sich dabei um Wohnwagen, Zelte oder Bruchbuden, die die Siedler weit außerhalb ihrer Orte in den besetzten Gebieten ohne behördliche Genehmigung aufgestellt haben, um das "jüdische Territorium" immer weiter auszudehnen und die palästinensische Bevölkerung zu schikanieren und zu provozieren. Aber Scharons Gönner in den Hauptstädten der USA und Europas verstehen, dass der israelische Regierungschef dieses Thema derzeit nicht anpackt. Vielleicht kann man irgendwann nach Abschluss des Rückzugs aus Gaza darüber sprechen.

Scharons Gönner verstehen und akzeptieren auch, dass vor allem im Bereich Jerusalems die planmäßige Ausdehnung der jüdischen Siedlungstätigkeit, der Land- und Häusererwerb in bisher palästinensischen Gebieten, die Vertreibung arabischer Bewohner in enger Kooperation zwischen ultrarechten Gruppen wie Ateret Kohanim und staatlichen Stellen zügig voranschreitet. Die Schaffung immer neuer "Realitäten" in den besetzten Gebieten wird weiter betrieben, da längst bewiesen ist, dass die maßgeblichen Regierungen der Welt bereit sind, sich diesen "Realitäten" über kurz oder lang zu unterwerfen. Seit Aufnahme der israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen Anfang der 90er Jahre hat sich die Zahl der jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten verdoppelt und die Chancen, dort jemals einen flächenmäßig zusammenhängenden Palästinenserstaat konstituieren zu können, sind weiter gegen Null gesunken.

Israel will die Westbank niemals räumen

Die staatstragenden Parteien Israels, nicht nur der Likud, sondern auch die Arbeitspartei, haben niemals vorgehabt, das 1967 besetzte Westjordanland wieder zu räumen. Um das zu erreichen, wurde schon in der Regierungszeit der Sozialdemokraten, die bis 1977 währte, die planmäßige, staatlich gesteuerte Be- und Zersiedlung der Westbank eingeleitet. Die jüdischen Siedlungen, die von ihnen kontrollierten Verkehrswege und jetzt auch der sogenannte Sicherheitszaun, die Befestigungsanlagen, an denen zügig weitergebaut wird, zerschneiden das Westjordanland in mehrere voneinander getrennte Gebiete.

Auf der Westbank kann kein Palästinenserstaat mehr entstehen, sofern Israel nicht willens wäre oder unter massiven außenpolitischen Druck käme, "Realitäten" im großen Umfang rückgängig zu machen, Siedlungen aufzulösen. Im Unterschied zum vergleichsweise banalen Abzug aus Gaza würde ein Rückzug aus dem Westjordanland aber in jeder Hinsicht an die ideologische und legitimatorische Substanz des Zionismus gehen. Der sich jetzt abzeichnende Widerstand gegen die Aussiedlung von 8.000 Menschen aus dem Gaza-Streifen bietet einen ganz kleinen Vorgeschmack auf das, was passieren würde, wenn eine israelische Regierung die Räumung der Westbank auf die Tagesordnung setzten würde. Der bloße Verdacht, er könnte sich vielleicht in diese Richtung bewegen, hat vor zehn Jahren Rabin das Leben gekostet. In gewisser Weise war das nicht nur die Tat eines einzelnen Ultrarechten, sondern eine Hinrichtung, hinter der ein erheblicher Teil der israelischen Gesellschaft stand, der Rabins Friedensplänen zutiefst misstraute und ihnen mit Hass begegnete.

Da Israel andererseits aber aus demographischen Gründen auch nicht das tun will, was Eroberer normalerweise tun, nämlich die Bevölkerung der besetzten Gebiete in irgendeiner Form integrieren, läuft letztlich alles auf Vertreibung - in geeigneter weltpolitischer Konstellation und auf möglichst humane Weise, versteht sich - hinaus. Scharon gönnte sich während der Road-Map-Gespräche vor zwei Jahren einen Tourismusminister Benny Elon, der mindestens einmal im Monat in die USA flog und dort Werbeveranstaltungen gegen die Road Map und für den ""Transfer", so wird in Israel die geplante Vertreibung der Palästinenser aus den besetzten Gebieten genannt, abhielt. Scharon selbst hat sich noch vor wenigen Jahren öffentlich und explizit gegen einen Palästinenserstaat ausgesprochen. Der "Transfer" würde heute wahrscheinlich auf einem Likud-Parteitag eine deutliche Mehrheit bekommen, wenn nicht taktische Rücksichten dagegen sprächen, diesen Plan zur Unzeit zur Diskussion zu stellen.

Auflösung der "Terrororganisationen"

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas äußert sich dennoch hoffnungsvoll, die von Israel abgebrochenen Road-Map-Gespräche wieder in Gang bringen zu können. Und er spricht offen aus, dass es sehr schwer würde, die de facto Zustimmung der Radikalen von Hamas und Dschihad zur Waffenruhe - sie nennen es "Abkühlungsphase" - aufrecht zu erhalten, wenn die israelische Seite nichts auf den Verhandlungstisch legt, was wenigstens perspektivisch in die Richtung eines souveränen Palästinenserstaats geht.

Blickt man zwei Jahre zurück, so ist festzustellen, dass das Road-Map-Projekt schon im Vorfeld daran gescheitert war, dass es der israelischen Regierung, massiv unterstützt von den maßgeblichen jüdischen Verbänden der USA und deren Lobby im Kongress, noch vor Verhandlungsbeginn gelungen war, zahlreiche Abänderungen an dem ursprünglichen Entwurf durchzusetzen. Der wichtigste Punkt war der Zeitplan: substantielle Verhandlungen erst nach Entwaffnung und Auflösung der "Terrororganisationen". Gemeint waren und sind damit nicht nur Hamas und Dschihad, sondern auch militante Teile der Fatah.

Abbas sieht sich heute derselben Forderung gegenüber, mit der die israelische Regierung ihn schon im Jahre 2003 konfrontierte, als er bereits einmal Verhandlungsführer der Palästinenser war und nach wenigen Monaten zum Rücktritt getrieben wurde. In seiner Kampagne zur Präsidentenwahl, in der er sehr um einen Vertrauensvorschuss der Radikalen warb, hat Abbas immer wieder gesagt, dass er keinen innerpalästinensischen Bürgerkrieg führen wird, sondern die Radikalen politisch von der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit einer Beendigung der militärischen Intifada überzeugen will.

Das mag man glauben oder auch nicht. Da alle Beteiligten wissen, dass nicht nur Israel, sondern auch die US-Regierung auf der Entwaffnung und Auflösung der "Terrorverbände" als Voraussetzung für substantielle Verhandlungen bestehen, fragen sich nicht nur die Hamas-Politiker, mit welchen Motiven und mit welcher Perspektive Mahmud Abbas die weiteren Verhandlungen führen will. Entscheidend ist aber, dass Abbas, selbst wenn er denn wollte - und es gibt bisher keinen Grund, ihm dies zu unterstellen - gar nicht in der Lage wäre, dem Drängen der USA und Israels nachzukommen, weil ihm dazu die militärischen Kräfte und die politische Autorität fehlen.

Die Militanten verfügen darüber hinaus über ein entscheidendes Mittel: Ihre Kräfte reichen allemal aus, um jederzeit die jüdischen Siedlungen und das israelische Militär in den besetzten Gebieten in einer Weise anzugreifen, die die de facto Waffenruhe zum Einsturz bringen würde.

Fazit: Die Palästinenser werden in den kommenden Monaten einem eigenen Staat nicht näher kommen, sondern Israel wird fortfahren, "Realitäten" zu schaffen, die die Besetzung des Westjordanlands zementieren.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 14.2.2005