KNUT MELLENTHIN

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Ein bißchen Land, ein bißchen Frieden (22.9.1993)

Ein bißchen Land, ein bißchen Frieden

Jahrelang schleppte sich der israelisch-palästinensische "Friedensprozeß" ohne Resultate dahin, mehrmals schien sein definitiver Abbruch bevorzustehen. Doch dann ging plötzlich alles sehr schnell: Überall in den besetzten Gebieten weht die palästinensische Flagge. Bis eben noch war sie von den Besatzungsbehörden verboten; sie trotzdem zu zeigen, war ein lebensgefährliches Unternehmen. Die israelische Regierung tut, was sie zuletzt noch einmal vor wenigen Wochen kategorisch abgelehnt hatte: Sie anerkennt die PLO als Sprecherin des palästinensisches Volkes und akzeptiert sie offiziell als Verhandlungspartnerin. Rabin ergreift, wenn auch "mit Würgen", wie er gewollt beleidigend öffentlich verkündet, die ausgestreckte Hand Arafats. Ein palästinensischer Staat erscheint plötzlich als reale Möglichkeit, wenn auch vorerst noch in Ausmaßen, die nur etwa die Hälfte der Größe Hamburgs erreichen.

Der erste praktische Schritt aufgrund des am 13. September unterzeichneten Abkommens soll der Rückzug der israelischen Besatzungstruppen aus dem Gaza-Gebiet und Jericho sein. Er soll voraussichtlich Anfang Dezember beginnen und bis zum April 1994 abgeschlossen sein. Bisher gibt es allerdings noch nicht einmal eine konkrete Vereinbarung über Zeitplan und Modalitäten des Abzugs. Um diese auszuhandeln, haben sich die beiden Seiten ein Limit von zwei Monaten gesetzt. Auch im Gaza-Gebiet bleibt die Besatzungsmacht also vorerst noch voll präsent; auch ihre Methoden haben sich bisher noch nicht wesentlich verändert.

Zugleich mit dem militärischen Rückzug aus dem Gaza-Gebiet und Jericho soll dort die Zuständigkeit für die Bereiche Bildung und Kultur, Gesundheits- und Sozialwesen, Steuern an palästinensische Stellen übergehen. Auch eine "einheimische" Polizei soll aufgebaut werden.

Der zweite Schritt soll die Wahl einer Volksvertretung ("Rat") für das Gaza-Gebiet und das Westjordanland sein. Außerhalb der Zuständigkeit dieses Gremiums bleibt Ostjerusalem, das von Israel beansprucht wird und dessen künftiger Status im Abkommen "ausgeklammert" wurde. Die Wahl des Rats soll nicht später als neun Monate nach Inkrafttreten der Vereinbarung stattfinden. Angeblich ist Anfang Juli 1994 dafür in Aussicht genommen. Israel hat sich verpflichtet, bis zum Wahltag seine Truppen aus den arabischen Wohngebieten zurückzuziehen.

Der Rat soll für eine "Übergangszeit" von maximal fünf Jahren amtieren. Seine Befugnisse werden der kommunalen Selbstverwaltung entsprechen. Sie erstrecken sich nicht auf die jüdischen Siedlungen und ihre BewohnerInnen, für die Israel in jeder Hinsicht zuständig bleibt. Ansonsten wird die konkrete Abgrenzung der Kompetenzen erst in künftigen Verhandlungen geklärt werden müssen, die schließlich zu einer "Übergangsvereinbarung" führen sollen. Sogar vergleichsweise unproblematische Fragen wie die Zahl der Ratsmitglieder und die Struktur dieses Gremiums müssen erst noch gemeinsam beschlossen werden - was nebenbei demonstriert, wie sich Israel bis ins allerkleinste Detail ein Mitspracherecht in palästinensischen Angelegenheiten vorbehält.

Während der "Übergangszeit" soll über einen "dauerhaften Status" der seit 1967 besetzten Gebiete verhandelt werden. Damit soll "so bald wie möglich" begonnen werden, spätestens jedoch bis Frühjahr/Sommer 1996. Dabei soll es dann auch um die äußerst komplizierten Fragen gehen, die man diesmal noch "ausgeklammert" hat, um das Zustandekommen der Vereinbarung zu ermöglichen. Dazu gehört die Zukunft von Ostjerusalem; die jüdischen Siedlungen; die Festlegung der territorialen Grenzen; das Problem der Flüchtlinge, die außerhalb der besetzten Gebiete leben.

Alle umstrittenen Fragen sind auf die spätere Verhandlungsphase verschoben worden. In jedem einzelnen dieser Punkte ist die ablehnende Position Israels sehr hart und läßt bisher absolut keinen Spielraum für Kompromisse erkennen. Sogar die vergleichsweise einfache Frage nach den Kompetenzen der palästinensischen Selbstverwaltung dürfte - dem jetzigen Stand der Dinge nach zu urteilen - scharf kontrovers diskutiert werden. Nicht einmal die Frage, ob überhaupt ein palästinensischer Staat entstehen darf, oder welchen anderen Status die selbstverwalteten Gebiete haben sollen, ist bisher beantwortet. Israel ist nach wie vor gegen einen Staat, doch scheint es ihn, im Gegensatz zu früher, nicht mehr absolut auszuschließen. Offen bliebe aber auf jeden Fall, welches Territorium ein solcher Staat umfassen könnte: Außer Ostjerusalem gibt es im Westjordanland auch noch weitere Gebiete, die Israel aus "strategischen" oder sonstigen Gründen unter keinen Umständen aufgeben will. (Nach manchen israelischen Ansichten machen diese Gebiete rund 50 Prozent des Westjordanlands aus.)

Soweit es das jetzt unterzeichnete Abkommen angeht, gibt Israel seine Herrschaft über die besetzten Gebiete noch keineswegs auf. Es bleibt die Möglichkeit offen, jederzeit den alten Zustand der Besatzungsdiktatur wiederherzustellen, mit der Begründung, das Experiment der Selbstverwaltung habe sich nicht bewährt, die PLO habe bei der Bekämpfung der "Extremisten" versagt oder sei dazu gar nicht bereit usw. Doch wird diese Option künftig wohl dadurch eingeschränkt sein, daß Israel nach den ersten Friedensschritten nicht mehr einfach alles realisieren kann, wozu es nach rein militärischer Logik in der Lage wäre.

Überhaupt liegt die praktische Bedeutung der bisher unterzeichneten Vereinbarungen nicht in ihrem simplen Inhalt, der äußerst bescheiden und in vielen Punkten fragwürdig ist. Mit Grund läßt sich sogar argumentieren, daß das Abkommen noch gar keine praktikablen Lösungsmöglichkeiten enthält, daß es selbst im allerbesten Fall nur ein zersplittertes Gebilde ohne Lebenskraft vorsieht. Andererseits sind mit der Anerkennung der Palästinenser als Nation und der PLO als ihrer Vertretung aber Markierungspunkte gesetzt worden, hinter die auch künftig nicht leicht wieder zurückgegangen werden könnte.

Widersprüche in Arafats eigenem Lager

Daß das Abkommen vom 13. September von den "radikalen" Sektoren der Palästinenser abgelehnt wird - von den islamistisch motivierten Kräften ebenso wie von linken und nationalistischen (was oft nicht genau voneinander zu trennen ist) - kann nicht verwundern. Für die meisten von ihnen stellen ja schon Verhandlungen mit Israel einen schweren Sündenfall dar. Ebensowenig ist verwunderlich, daß diese Strömungen starken Rückhalt bei den Flüchtlingsmassen außerhalb Palästinas finden, denn schließlich ist selbst bei größtem Optimismus absolut keine politische Lösung denkbar, die ihnen irgendetwas bringen könnte. Das kann man der PLO nicht als "Verrat" vorwerfen, sondern es ergibt sich aus dem Kräfteverhältnis und anderen Elementen der Realität. Andererseits hat es nicht unbedingt mit ideologischem Fanatismus zu tun, wenn im Libanon oder in Syrien gegen das Abkommen protestiert wird. Es gibt innerhalb des abstrakten Kollektivums "palästinensisches Volk" unterschiedliche Situationen und Interessen, die von der Politik her nicht aufhebbar sind.

Schwerwiegender als die Ablehnung durch die "Radikalen" ist, daß die Politik Arafats auch in Kreisen auf Kritik stößt, auf die sie sich bislang stützen konnte.

Die Existenz von erheblichen Widersprüchen war schon seit Monaten deutlich geworden. Die Ende Oktober 1991 begonnenen Friedensgespräche waren, nach anfänglicher Euphorie auf palästinensischer Seite, schnell in der vorausgesagten Sackgasse der jeweiligen kontroversen Standpunkte angekommen. Zweifel am Sinn und Nutzen der zum Ritual erstarrten Begegnungen nahmen zu. Die Regierungsübernahme durch die sozialdemokratische Arbeitspartei im Juli 1992 ließ noch einmal Hoffnungen auf israelische Kompromißbereitschaft aufkommen, doch wurden auch diese von den Realitäten enttäuscht.

An der achten Gesprächsrunde, im Dezember 1992, hätten die Palästinenser deshalb am liebsten schon gar nicht mehr teilgenommen. Nur die Sorge, dann außenpolitisch schlecht dazustehen und international für das Scheitern der Verhandlungen verantwortlich gemacht zu werden, führte sie an den Konferenztisch zurück. Das allerdings nur mit einer demonstrativ von 14 auf vier verkleinerten Restdelegation. Selbst Arafat bekundete zu dieser Zeit offen seinen Unmut, die bisherigen Gespräche hätten nur "Null-Ergebnisse", ja schlimmer noch: "Minus-Ergebnisse" gebracht.

Kurz nach dieser achten Runde ordnete die israelische Regierung die Ausweisung von über 400 Palästinensern an, deren Zugehörigkeit zur islamistischen Hamas behauptet wurde. Das konnte nur als unglaubliche Provokation gegen den Friedensprozeß verstanden werden, und die Reaktionen auf palästinensischer Seite waren entsprechend: Keine Beteiligung an weiteren Gesprächen vor Rücknahme der Ausweisungsorder! Da die israelische Regierung sich aber von dieser vorhersehbaren (und vielleicht sogar gewollten?) Antwort nicht beeindrucken ließ, nahm der Druck auf die PLO von arabischer und amerikanischer Seite zu, ihre kategorische Weigerung fallen zu lassen. So geschah es schließlich: Ende April konnten mit der neunten Runde die Verhandlungen wieder aufgenommen werden.

Schon zeigte sich aber der Dissens in der Verhandlungsdelegation. Die beiden Vertreter der früheren Kommunistischen Partei, jetzt Volkspartei genannt, verweigerten aus Protest die Teilnahme und blieben danach auch der zehnten Runde im Juni fern. Die Delegationssprecherin Hanan Aschrawi warnte nach der neunten Runde, die Lage in den besetzten Gebiete drohe die Verhandlungen irrelevant und einen Friedensschluß unerreichbar zu machen. Der Delegationsleiter Abdel Schafi ging noch einen Schritt weiter: "Wir können nicht weiter an einem Verhandlungsprozeß teilnehmen, der stets ergebnislos bleibt. Diese Verantwortung können wir nicht übernehmen." Die Delegation, so Schafi, sei gegen eine Beteiligung an der neunten Runde gewesen, doch habe die PLO-Führung anders entschieden. Ebenso sprach er sich danach gegen die zehnte Runde im Juni aus und unterwarf sich nur aus Disziplin der Beschlußlage.

Anfang August erklärten der stellvertretende Delegationsleiter Sa'eb Erekat, Hanan Aschrawi und Faisal Husseini ihren Rücktritt aus der Verhandlungsdelegation. Einer der auslösenden Punkte war gewesen: Die Delegation hatte von Arafat den Auftrag erhalten, dem US-Außenminister ein "Papier" zu übergeben, bei dem es sich offenbar um den palästinensischen Entwurf zu dem jetzt unterzeichneten Abkommen handelte. Angeblich nahmen die drei PLO-Diplomaten dann an dem von der PLO-Spitze gebilligten Dokument vor der Weitergabe Veränderungen vor, da dieses ihrer Ansicht nach einige "Fehler" enthielt.

Abgesehen von diesem Vorfall war der Rücktritt der drei prominenten VertreterInnen wohl auch und vor allem als Protest gegen die gesamte Verhandlungstaktik des engsten Führungskreises um Arafat zu sehen. Wie nun bekannt wurde, hatten schon seit November letzten Jahres Geheimverhandlungen zwischen Abgesandten der PLO und Israels in Norwegen stattgefunden, und hier waren die eigentlichen politischen Entscheidungen bereits gefallen. Zumindest teilweise war die offizielle Verhandlungsgruppe dabei umgangen worden und sah sich nun der Lächerlichkeit ausgesetzt. - Übrigens nahm das Spitzengremium der PLO, das Exekutivkomitee, die Rücktritte nicht an, und die drei ihrerseits scheinen nicht gegen die "Organisationsdisziplin" darauf bestehen zu wollen. Zumindest Frau Aschrawi fungiert weiterhin als offizielle Sprecherin und scheint um größtmögliche Loyalität bemüht.

Unter den "Dissidenten" ist auch Faruk Kaddumi zu nennen, der als Außenminister der PLO fungiert, sich aber aus Protest weigerte, das Abkommen mit Israel zu unterschreiben. Er will nun angeblich eine eigene politische Strömung gegen Arafats Kurs um sich sammeln. Auch im Zentralkomitee der Fatah und im Exekutivkomitee der PLO gab es mehrere Stimmen gegen das Abkommen.

Kritik am Führungsstil ...

Die Kritik aus Arafat eigentlich politisch nahestehenden Kreisen an dem Abkommen mit Israel bezieht sich auf zweierlei: Erstens auf den Führungsstil Arafats und seines engsten Zirkels, der weder die Diskussion noch den Konsens in den eigenen Reihen sucht. Zweitens auch auf inhaltliche Teile des Abkommens.

Zu Punkt 1: Die Zahl derjenigen, die zwar im Prinzip mit Arafats Linie - Verständigung mit Israel auch um den Preis großer Zugeständnisse, Demütigungen und Risiken - übereinstimmen, aber seine Alleingänge kritisieren, ist in den letzten Monaten immer mehr angewachsen. Angesichts der offensichtlichen Probleme, die in dieser Politik enthalten sind, wurde eine breite Aussprache über Strategie und Taktik gefordert: So etwa vom Delegationsleiter Schafi immer wieder formuliert als Plädoyer für eine Verhandlungspause, die zum gemeinsamen Nachdenken und Beraten über die nächsten Schritte genutzt werden sollte. Vielfach wird, jetzt vor allem mit Blick auf das Abkommen und seine Auswirkungen, die Einberufung des Nationalrats (d.h. des palästinensischen Parlaments) und/oder die Durchführung einer Volksabstimmung gefordert.

Diese Kritik ist selbstverständlich nicht nur formal-demokratisch, sondern betrifft eine grundsätzliche Frage der PLO-Politik: Offensichtlich ist es oft einfacher, für unpopuläre Entscheidungen und Wege nicht erst lange Diskussionen zu führen und um breiten Konsens zu kämpfen. Der Alleingang, das Herstellen vollendeter Tatsachen erweist sich oft als der effektivere Weg - und gerade im Falle Arafats hat diese Methode ja bisher insgesamt ausgezeichnet funktioniert. Ob sich auf diese Weise aber auch noch weitermanövrieren läßt, wenn die jetzt schon evidenten Problemstellen des Abkommens Wirkung zeigen, wenn es Rückschläge auf dem nun beschrittenen neuen Weg der israelisch-palästinensischen Verständigung gibt - eben das muß aus guten Gründen in Frage gestellt werden. Die Forderungen nach einer anderen Kultur der Diskussion und Entscheidungsfindung könnten, so gesehen, der notwendigen Stärkung der palästinensischen Bevölkerung und ihrer Organisationen für die wahrscheinlich bevorstehenden komplizierten Situationen dienen.

... und an den Zugeständnissen

Zu Punkt 2, Meinungsverschiedenheiten über Teile des Abkommens: Was den Palästinensern jetzt von Rabin an Selbstverwaltung "zugestanden" wurde, geht materiell nicht wesentlich über das hinaus, was auch schon von der konservativen Regierung Begin am Rande des Friedensabkommens mit Ägypten, Ende der siebziger Jahre, angeboten wurde. Eine andere Frage ist, was wohl damals passiert wäre, wenn die palästinensische Seite darauf eingegangen wäre, und ob heute die Realisierungschancen für eine praktikable politische Lösung nicht sehr viel besser sind als damals. Der Hauptunterschied zwischen dem damaligen Vorschlag und dem jetzigen Abkommen liegt aber in der offiziellen Anerkennung der PLO als Faktor und Verhandlungspartner. Das muß über viele Schwächen und Risiken der Vereinbarungen hinwegtrösten.

Zweifellos sind zentrale Bestandteile bisheriger PLO-Politik in den Vereinbarungen "ausgeklammert" worden und scheinen einer Akzeptierung durch Israel kein Stück näher gekommen. Das ist an erster Stelle der Status von Ostjerusalem, das die Palästinenser als Hauptstadt ihres kommenden Staates sehen wollen, während Israel es auf keinen Fall zurückgeben will. Noch vor wenigen Monaten lautete die offizielle PLO-Position, daß es ohne zufriedenstellende Regelung für Ostjerusalem keine Einigung geben könne.

Unerfüllt blieb zweitens die materiell noch wichtigere Forderung nach "Recht auf Rückkehr", also nach offenen Grenzen für alle palästinensischen Flüchtlinge. Israel lehnt das nicht nur für sein eigenes Staatsgebiet ab, sondern auch für das künftige Territorium unter palästinensischer Selbstverwaltung. Israelische Truppen sollen auch künftig dessen Grenzen "bewachen", d.h. abriegeln, und keine Einwanderung zulassen - oder nur eine zahlenmäßig sehr beschränkte, vertraglich genau zu vereinbarende, in erster Linie Familienzusammenführung für Flüchtlinge des Krieges von 1967. Darauf aber könnte sich die PLO-Führung nicht einlassen, ohne die Spaltung zwischen der Bevölkerung der besetzten Gebiete und den außerhalb Palästinas lebenden Flüchtlingsmassen noch weiter zu vertiefen.

Ein dritter Problempunkt sind die "Siedler", die jüdischen Bewohner der besetzten Gebiete. Essential der PLO in den Verhandlungen war stets gewesen, daß als Minimum ein absoluter Siedlungsstopp mit einem Friedensschluß verbunden sein müsse. Das blieb schon weit hinter der Ausgangsforderung zurück, die Siedlungen müßten aufgelöst werden. Nicht einmal das Minimum ist aber in der Vereinbarung vom 13. September gesichert worden. Der einzige definitiv formulierte Sachverhalt ist, daß die Siedlungen außerhalb der palästinensischen Zuständigkeit bleiben, daß auch die künftige palästinensische Polizei dort keinerlei Kompetenzen haben wird. Was zum Beispiel geschehen soll, wenn jüdische Siedler an ihrem Brauchtum festhalten, provozierend bewaffnet durch arabische Wohngebiete zu paradieren und gelegentlich wild um sich zu schießen, wenn ihnen dabei "jemand dumm kommt", bleibt offen.

Viertens war bisher von der PLO gefordert worden, daß die "Zwischenlösung" mit dem als endgültig anzustrebenden Zustand eng und eindeutig verbunden sein müsse. Das bedeutet, die PLO wollte sich auf "Zwischenlösungen" nur einlassen im Rahmen von vereinbarten festen Zeitplänen, aus denen auch das Schlußstadium klar erkennbar hervorgehen müßte. Konkret: Israel sollte von vornherein als Ziel eines mehrstufigen Friedensprozesses einen Staat in der Gesamtheit der seit 1967 besetzten Gebiete, einschließlich Ostjerusalems, akzeptieren. Nun ist aber Israel in dem eben unterzeichneten Abkommen überhaupt keine dauerhafte Verpflichtung eingegangen; sogar die Selbstverwaltung (deren Umfang auch noch nicht definiert wurde) ist nur ein Versuch, der später als gescheitert widerrufen werden könnte.

Fünftens blieb im Abkommen die palästinensische Forderung nach gesetzgeberischen Befugnissen weitgehend unerfüllt. Sie soll künftigen Verhandlungen vorbehalten sein, wobei noch völlig offen ist, wieweit Israel dann zu gehen bereit ist. Es steht also die Frage, welche Gesetze und Vorschriften die aufzubauende palästinensische Polizei durchsetzen soll: "bis auf weiteres" erst einmal die geltenden der israelischen Militärverwaltung?

Gerade das ist ganz sicher keine hypothetische oder spitzfindige Frage. Erklärtermaßen erwarten Israel und die USA von der PLO vor allem im Gaza-Gebiet eine aktive Repressionspolitik. Von deren Erfolg oder Scheitern wird es - unter anderem - abhängen, ob man dem palästinensischen Gemeinwesen künftig das Prädikat "glaubwürdig" zuerkennen wird und ihm als Belohnung für Wohlverhalten eine erweiterte Selbstverwaltung in Aussicht stellt.

Vielleicht ist das die schlimmste "Falle" des Abkommens: Einerseits werden den jetzt zu schaffenden palästinensischen Staatsorganen nur beschränkte Selbstbestimmung und Kompetenzen zugestanden. Andererseits wird von ihnen verlangt, ihr Staatsvolk so fest in den Griff zu kriegen wie eine "normale" Regierung. Sie werden also, wenn sie überhaupt funktionieren, zumindest teilweise als Juniorpartner der Besatzungsmacht arbeiten müssen. Und da die seit Jahrzehnten an Aufsässigkeit und vielfältige Widerstandsformen gewöhnte Bevölkerung das wohl nicht einfach hinnehmen wird, können heftige Konflikte und Brüche kaum ausbleiben.

Nicht nur die PLO ist in einer Zwangslage

Wenn so die Schwachstellen und Risiken der palästinensisch-israelischen Vereinbarung aneinandergereiht werden, drängt sich die Frage auf, ob der Führungskreis um Arafat nicht einen großen Fehler gemacht hat, sich überhaupt auf diesen Weg einzulassen.

Die einfachste und kaum sachlich zu widerlegende Antwort darauf ist: Sie hatten unter den gegebenen Verhältnissen gar keine andere Wahl. Es ist bekannt, daß sich die Finanzmittel der PLO im Vergleich zum Ende der achtziger Jahre auf ein Drittel reduziert haben, vor allem aufgrund der Streichungen durch Kuwait, Saudi-Arabien und andere Ölstaaten seit dem zweiten Golfkrieg. Entsprechend sind auch die Gelder, die die PLO den besetzten Gebieten zur Verfügung stellen kann, ungefähr auf ein Drittel des früheren Volumens geschrumpft.

Die gutgemeinte Aufforderung, "sich auf die eigenen Kräfte zu stützen", hilft da wenig. Denn die Mittel, die die palästinensische Bevölkerung zur Verfügung hat, sind gleichermaßen immer weniger geworden. Da die Arbeiterklasse der besetzten Gebiete weitestgehend von Arbeitsmöglichkeiten in Israel abhängt und ihr diese in den letzten Jahren gesperrt wurden, leben Hunderttausende nur noch von den Reserven. Die Intifada hat sich erschöpft, sie fordert inzwischen von der palästinensischen Bevölkerung einen weitaus höheren Preis als von Israel. Die Aufmerksamkeit für die Intifada außerhalb des Nahen Ostens hatte sich schon nach dem ersten, spätestens nach dem zweiten Jahr soweit abgebaut, daß die internationale Öffentlichkeit längst keine Schranke für das israelische Vorgehen mehr darstellt. Die Aufforderung, die Intifada noch einmal zu eskalieren, stellt keine realistische Alternative zum Verhandlungsfrieden dar, und würde wahrscheinlich von der Mehrheit der Bevölkerung praktisch nicht mehr mitgetragen.

Andererseits, ein Abkommen mit Israel zu schließen, bedeutet zwangsläufig, daß wesentliche Ziele der PLO-Politik darin nicht berücksichtigt sind, sondern bestenfalls als Optionen für die Zukunft offengehalten werden können. Eine Chance für ein qualitativ anderes Abkommen gab es nicht, und selbst das jetzige geht an die Grenzen des in der israelischen Gesellschaft gerade noch Durchsetzbaren.

Eben deshalb meine ich, daß der Satz, die PLO habe aus einer Zwangslage und Schwächesituation heraus gar nicht anders gekonnt, als dieses Abkommen zu unterschreiben, zu wenig aussagt und zu defensiv ist. Nicht nur die PLO, auch Israel "konnte nicht anders". Nicht nur die PLO, sondern auch Israels Regierung und Gesellschaft befinden sich in einer Zwangslage, auch sie müssen in Dinge einwilligen und Entwicklungen den Weg öffnen, die sie "eigentlich" immer abgelehnt haben und die sie selbst jetzt vielleicht gerade erst zu wollen beginnen. Nicht nur die palästinensische Seite, sondern auch Israel läßt sich auf Risiken ein - auch wenn dieses zweifellos weit besser als jene in der Lage wäre, die Folgen eines Scheiterns des neuen gemeinsamen Wegs zu ertragen.

Ob eine Teilung Palästinas so, wie es im Abkommen angedeutet ist, oder auf irgendeine andere Weise heute noch funktionieren kann, muß bezweifelt werden. Die beiden Völker sind so sehr miteinander verflochten, daß eine territoriale "Entflechtung" praktisch unmöglich erscheint. So mag es denn sein, daß das Abkommen vom 13. September 1993 eines Tages nicht als Gründungsdatum eines eigenen palästinensischen Staates gelten wird, wohl aber als Anfang des gleichberechtigten Zusammenlebens zweier Völker in einem Staat.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 22. September 1993