KNUT MELLENTHIN

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Die Lust am Aufputschen

Das Massaker auf der norwegischen Insel Utøya hat viele Inspiratoren. Sie tragen Namen wie Bat Ye'or, Robert Spencer, Bruce Bawer, Fjordman – das Pseudonym eines unbekannten Vielschreibers -, Ted Kaczynski (bekannter als „Unabomber“) und Henryk Broder. Die Doktorarbeit eines durchschnittlichen deutschen Politikers enthält mehr Selbstverfasstes als das 1500 Seiten starke „Manifest“, das Anders Behring Breivik kurz vor seinen Mordtaten verschickte. Diese mit tagebuchartigen Aufzeichnungen angereicherte Collage besteht überwiegend aus einkopierten Textblöcken der Lieblingsautoren von Breivik. Der Blogger Fjordman, der im „Manifest“ besonders häufig auftaucht, hat seinerseits lange Artikel geschrieben, die fast nur aus Zitaten anderer Verfasser der rechten Anti-Moslem-Szene bestehen. Eine Reihe von wörtlichen Übernahmen, so etwa vom „Unabomber“, hat Breivik in seinem Sammelsurium nicht einmal als solche gekennzeichnet.

Der Massenmörder lebte offenbar seit Jahren in einer wahnhaften Parallelwelt, die sich mit dem hauptsächlich von Gisèle Littman – sehr viel bekannter unter ihrem Künstlernamen Bat Ye'or – geprägten Schlagwort „Eurabia“ kennzeichnen lässt. Die in Ägypten geborene Autorin behauptet, dass seit der sogenannten Ölkrise von 1973 eine geheime Verschwörung zwischen den europäischen und arabischen Eliten bestehe. Europa habe sich dadurch vom Bündnis mit den USA gelöst und sei „in den arabisch-islamischen Bereich hinüber gewechselt“. Aus dem selben Grund führe Europa einen „versteckten Krieg gegen Israel“. Als hervorragenden Beweis für diese total abgedrehte These führt Bat Ye'or an, dass die Europäer die Forderung nach einem Palästinenserstaat akzeptieren.

Ein unübersehbares Netz von Webseiten propagiert die „Eurabia“-Wahnvorstellungen und treibt auf dieser Linie rechtspopulistische „Volksaufklärung“. Die Artikel des deutschen Journalisten Henryk Broder, den es mittlerweile vom SPIEGEL zu Springers WELT verschlagen hat, werden dort vielfach zitiert. Broder, der weltanschaulich sehr wenig Originelles beizutragen hat, gilt der Szene als Kronzeuge für die Behauptung, dass die europäischen Staaten, die Regierungen ebenso wie die Bevölkerungen, vor der wahnhaft eingebildeten Machtübernahme durch den Islam längst feige und opportunistisch kapituliert hätten. Broder trifft sich in seinem hartnäckig strapazierten Dauerthema mit Bat Ye'or, die sogar meint, der gegenwärtige „Verrat“ der europäischen Eliten sei noch schlimmer als das britisch-französische Einknicken vor Hitler in München 1938.

Breiviks Massenmord ist eine vermutlich von den Autoren nicht beabsichtigte, aber durchaus logische und daher letztlich voraussehbare Reaktion auf dieses Weltbild. Aus den Einträgen des jetzt 32-Jährigen in verschiedenen rechten Blogs wird deutlich, dass er sich schon seit langem mit der Frage beschäftigte, wie angesichts der unterstellten allgemeinen Kapitulation Europas vor dem Islam von mutigen und entschlossenen Einzelnen gegengesteuert werden könnte. Dass er sich in die Rolle eines Kreuzritters hinein phantasierte, der nicht nur legitimiert, sondern geradezu verpflichtet sei, grausame, aber notwendige Mordtaten in großem Stil zu begehen, stellte seine individuelle Antwort auf den aggressiven Feigheits-Vorwurf der „Eurabia“-Ideologen dar.

Aus Breiviks Aufzeichnungen lässt sich schlussfolgern, dass er mit dem Massaker in einem Sommerlager der Jungsozialisten mehrere Ziele zu erreichen hoffte: Erstens öffentliche Aufmerksamkeit für die in seinem „Manifest“ zusammenkopierte rassistische, anti-moslemische und nicht nur anti-linke, sondern auch anti-liberale Weltanschauung. Zweitens Provozierung von „Überreaktionen“ der Gegenseite, insbesondere von jungen Moslems und von Linken, die dann propagandistisch ausgeschlachtet werden könnten. Nach seinen eigenen Angaben hatte der Norweger diese „bewusste Strategie“ schon mit Erfolg der britischen EDL empfohlen, die ausländerfeindliche Krawalle gern unter israelischen Fahnen stattfinden lässt. Drittens scheint Breivik auch die Tatsache, dass den Rassisten aufgrund seines Massenmords zunächst einmal der Wind ins Gesicht bläst, ins Kalkül einbezogen zu haben: Aus seiner durch Blog-Einträge dokumentierten Sicht besteht die rechte Szene überwiegend aus Sprücheklopfern, die vor entschlossenen Aktionen zurückschrecken. Hier eine Radikalisierung herbeizuführen, indem die Szene jetzt unter härteren staatlichen und öffentlichen Druck gerät, erscheint im Kontext von Breiviks Wahnvorstellungen geradezu logisch.

Misstrauen ist indessen geboten gegenüber allem, was der Massenmörder über sich selbst und seine Verbindungen erzählt. Allzu vieles erscheint ausgedacht und inszeniert. Das gilt besonders, aber nicht nur für das Facebook-Profil, das er wenige Tage vor seiner „Aktion“ in mehrstündiger Arbeit zusammenstückelte. Zum Beispiel wird Breiviks Behauptung, er habe im April 2002 in London an der Gründung eines „Templerorden“ genannten Geheimbundes teilgenommen, gerade dadurch, dass er dies offen berichtet, eher unwahrscheinlich.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 26. Juli 2011