KNUT MELLENTHIN

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Das neue russische Parlament

Ein endgültiges Ergebnis der russischen Wahl vom 12. Dezember lag auch drei Wochen danach noch nicht vor. Die 450 Parlamentssitze wurden je zur Hälfte aufgrund einer Listenwahl und einer Wahl von Direktkandidaten vergeben. Für die Listenwahl galt eine Fünf-Prozent-Sperre. Nach dem vorläufigen Endergebnis, das zwei Wochen nach der Wahl bekanntgegeben wurde, waren von insgesamt dreizehn zugelassenen Parteien acht bei der Listenwahl erfolgreich:

  • Liberal-Demokratische Partei, 22,8 %
  • Rußlands Wahl, 15,4 %
  • Kommunistische Partei, 12,4 %
  • Frauen Rußlands, 8,1 %
  • Agrarpartei, 7,9 %
  • Wahlblock Jawlinskij-Boldyrew-Lukin (Jabloko), 7,8 %
  • Einheit und Eintracht, 6,8 %
  • Demokratische Partei, 5,5 %

Die Bewegung für demokratische Reformen des Leningrader Oberbürgermeisters Sobtschak scheiterte mit vier Prozent bei der Listenwahl. Ebenso die im letzten Parlament noch einflußreiche Bürgerunion, eine "zentristische" Gruppe, die Interessen des Managements der Großindustrie vertritt: sie holte landesweit nur etwa zwei Prozent. Erstaunlich schlecht auch das Ergebnis der Öko-Liste Zeder, 0,7 Prozent.

Durch die Wahl von Direktkandidaten in den Wahlkreisen - deren Ergebnisse noch nicht vollständig vorliegen - verschiebt sich die Verteilung der Mandate gegenüber der reinen Listenwahl erheblich: Erstens sind mehrere Parteien, die landesweit unter fünf Prozent blieben oder nicht zugelassen waren, durch die Direktwahl dennoch mit Abgeordneten im neuen Parlament vertreten. Ebenso auch viele Einzelkandidaten ohne Parteizugehörigkeit. Zweitens hat die prozentual stärkste Partei, die rechtsextremen Liberal-Demokraten Schirinowskijs, nur wenige Direktkandidaten durchbringen können, im Gegensatz zur hier sehr erfolgreichen Regierungspartei Rußlands Wahl. Das deutet darauf hin, daß die Liberal-Demokraten kaum über örtlich bekannte und populäre Politiker verfügen, sondern ganz ausgeprägt eine "Führer"- und "Weltanschauungs"-Partei sind.

Listenwahl und Direktwahl zusammengenommen ergibt sich voraussichtlich etwa folgende Verteilung der 450 Parlamentssitze:

  • Rußlands Wahl, 96 Sitze
  • Liberal-Demokraten, 70 Sitze
  • Kommunistische Partei, 65 Sitze
  • Agrarpartei, 47 Sitze
  • Jawlinskij-Block, 33 Sitze
  • Einheit und Eintracht, 27 Sitze
  • Frauen Rußlands, 25 Sitze
  • Demokratische Partei, 21 Sitze
  • Bürgerunion, 18 Sitze
  • Bew. f. demokrat. Reformen, 8 Sitze
  • Würde und Barmherzigkeit, 3 Sitze
  • Einzelkandidaten, 30 Sitze

Als voll auf Jelzins Kurs stehend kann im neuen Parlament eigentlich nur die von Wirtschaftsminister Gajdar geführte Liste Rußlands Wahl gelten. Die vom Nationalitätenminister und Vizepremier Schachraj gegründete Partei der Russischen Einheit und Eintracht betont stärker die autonomen Interessen der einzelnen Regionen Rußlands. Sie befürwortet eine Abschwächung des Tempos und der Radikalität der Wirtschaftsreformen. Das gilt mindestens ebenso für den vom Wirtschaftsfachmann Jawlinskij geführten Block, der außerdem unter der Parole antrat, das autoritäre Regime Jelzins durch demokratische Methoden zu ersetzen. Die Bewegung für demokratische Reformen scheint den schwierigen Spagat zwischen einem noch schnelleren Sturz in den Kapitalismus einerseits und mehr Demokratie andererseits zu vertreten.

Diese vier Parteien mit zusammen 164 Abgeordneten repräsentieren im Wesentlichen das Spektrum, auf das Jelzin sich bisher halbwegs zuverlässig stützen konnte. Wahrscheinlich wird aber selbst in diesem Kreis jetzt Streit ausbrechen über die weitere "Reformpolitik", über die Investitions- und Subventionspolitik, über flankierende soziale Maßnahmen, über die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen der Moskauer Zentrale einerseits und den Regionen und Städten andererseits. Als erste Reaktion nach der Wahl hat Jelzin mehrere Berater und Regierungsfunktionäre entlassen, darunter offenbar insbesondere solche, die der Partei Einheit und Eintracht angehören oder nahestehen. Andererseits deutet die Ernennung des früheren Gorbatschow-Beraters Alexander Jakowlew zum Direktor des Fernsehens darauf hin, daß Jelzin sich mit der Bewegung für demokratische Reformen zu arrangieren versucht, für die Jakowlew kandidiert hatte.

Der "radikalen Opposition" werden in erster Linie die Schirinowskij-Leute, die Kommunisten und die Agrarpartei zugerechnet. Das wären, rein theoretisch, zusammen etwa 182 Abgeordnete. Hinzuzählen könnte man beispielsweise noch einzelne Rechtsextreme oder "Links"-Nationalisten. So etwa die direkt gewählten Vorsitzenden der Nationalrepublikaner und der Volksunion, Lyssenko und Baburin, deren Parteien zur Listenwahl nicht zugelassen worden waren.

Tatsächlich macht eine solche Rechengröße "radikale Opposition" keinen Sinn, da die Kommunisten und Rechtsextremen zwar in manchen Fragen zusammen stimmen würden, in anderen jedoch nicht. Außerdem hat Schirinowskij angekündigt, daß er sich als "konstruktive Opposition" gebärden will. Das ist vermutlich nicht nur taktisches Geschwätz, wie sich in der Zustimmung der Liberal-Demokraten zu Jelzins Verfassung schon gezeigt hat. Zugleich gibt es auf außen- und militärpolitischem Gebiet soviele reale Übereinstimmungen zwischen Regierung und Liberal-Demokraten, daß eigentlich nur die Rücksicht auf negative Reaktionen im Ausland Jelzin von einer punktuellen Zusammenarbeit abhalten könnte.

Die Agrarpartei, die hierzulande bequemerweise als Sprachrohr altkommunistischer Kolchosbürokraten diffamiert wird, ist eher eine Lobby der landwirtschaftlich Tätigen allgemein. Natürlich wird sie sich für mehr Subventionen und protektionistische Maßnahmen sowie gegen eine administrative Zerschlagung oder wirtschaftliche Strangulierung der Agrargenossenschaften einsetzen. Wieweit ihre Abgeordneten in anderen, sie nicht so unmittelbar angehenden Fragen, mit der Regierung oder mit der Opposition stimmen würden, ist schwer einzuschätzen. Übertriebene Erwartungen hinsichtlich des radikalen Oppositionsgeistes dieser Partei werden allein schon durch die Tatsache widerlegt, daß an ihrer Spitze der amtierende Landwirtschaftsminister steht.

In sozialen Fragen wird die Regierung sicher auch auf den Widerstand der Frauenpartei sowie der Abgeordneten von Würde und Barmherzigkeit treffen. Insgesamt setzt sich die Frauenpartei traditionelle, keineswegs radikale Ziele. Dazu gehören der Kampf gegen die Zunahme der Kindersterblichkeit und der Prostitution, für die Verbesserung der Situation der Mütter usw. Es geht auch, ganz schlicht, darum, zumindest den bestehenden Anteil von Frauen am politischen Leben zu verteidigen bzw. zurückzuerobern: Waren zur Sowjet-Zeit mindestens ein Drittel der Parlamentsmitglieder Frauen, so waren es im letzten Parlament nur noch 5,9 Prozent. Auch unter den über 2000 Kandidaten für die jetzt gewählte Duma befanden sich lediglich 5,5 Prozent Frauen.

Zu den Gegnern einer wirtschaftlichen "Schocktherapie" in der bisher vor allem mit dem Namen Gajdars verbundenen Form werden, außer den bisher aufgezählten, vermutlich in vielen Einzelpunkten auch die Abgeordneten von Wolskijs Bürgerunion - Interessenvertretung des Managements der Großindustrie - und der Demokratischen Partei von Trawkin gehören.

Jelzin und Gajdar würden also voraussichtlich eine große Ablehnungsfront im Parlament gegen sich haben, falls sie versuchen sollten, ihre Wirtschaftspolitik einfach stur in der bisherigen Weise fortzusetzen, wie es beispielsweise Finanzminister Fjodorow explizit gefordert hat. Er plädiert sogar dafür, aus dem Regierungsteam diejenigen zu entfernen, die der bisherigen "Reformpolitik" irgendwie kritisch gegenüberstehen. Dies würde allerdings die parlamentarische Basis von Jelzin und Gajdar auf eine Abgeordnetenzahl reduzieren, die noch kleiner wäre als die Fraktion Rußlands Wahl.

In einer normalen parlamentarischen Demokratie wäre die Situation Jelzins nach diesem Wahlausgang praktisch aussichtslos. Nicht so vermutlich in Rußland. Erstens kann Jelzin kraft Verfassung sowieso total am Parlament vorbeiregieren. Zweitens wird er, wie mit dem alten Parlament auch schon, das Spiel wechselnder Mehrheit betreiben können. So wenig einerseits eine regierungsfähige Mehrheit besteht, so wenig gibt es andererseits eine handlungs- und bündnisfähige Opposition, die sich auf reale Alternativen verständigen könnte.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 12. Januar 1994