KNUT MELLENTHIN

Funktionen für die Darstellung

Darstellung:

Seitenpfad

"Erhebe dich, du großes Land!..."

"Die energischsten Kämpfer im Weißen Haus" seien die kräftigen jungen Männer von der Organisation Russische Nationale Einheit gewesen, behauptet das österreichische Nachrichtenmagazin "Profil" (11.10.93). "150 von ihnen waren laut 'Moskowski Komsomolez' am 3. Oktober beim Angriff auf das Fernsehen in Moskau-Ostankino mit Maschinenpistolen dabei."

Die RNE unter ihrem 40jährigen Chef Alexander Barkaschow gilt als bestorganisierte und zukunftsträchtigste Truppe unter den russischen Faschisten. Die Zahl seiner im Waffengebrauch ebenso wie in Kampfsporttechniken bestens ausgebildeten Leute wurde von Barkaschow selbst vor einigen Monaten mit 500 angegeben. (Focus, 16.2.93) Weit größer dürfte aber die Menge der Jugendlichen sein, die eine Ausbildung bei der Barkaschow-Truppe absolviert haben und weiterhin zum lockeren Sympathisantenkreis der Rechtsextremen gehören. Um seine Leute in Form zu halten und die Organisationskasse zu füllen, bietet Barkaschow sie als bewaffnetes Wachpersonal für Unternehmen und Organisationen an. (Focus, s.o.)

Das Symbol der RNE ist ein grafisch leicht verfremdetes Hakenkreuz in einem achteckigen Stern. Barkaschow läßt keinen Zweifel aufkommen, daß es auch genauso gemeint ist: "Unser Symbol ist an das Hakenkreuz angelehnt. Hitler war auf dem richtigen Weg." (Focus, s.o.) Die Beteiligung seiner Truppe an der Verteidigung des Weißen Hauses und am bewaffneten Sturm auf das Fernseh-Gebäude verstand Barkaschow wohl als Griff nach der Macht. Hatte er doch schon vor Monaten verkündet: "Die gegenwärtige Regierung hält sich nicht bis Ende dieses Jahres. Die nächste wird schon nationalistisch sein." (Focus, s.o.)

Zweifellos hat Boris Jelzin mit der Auflösung des Obersten Sowjet der Russischen Föderation die Verfassung seines Landes eklatant gebrochen. Ebenso unzweifelhaft ist, daß der Mann seiner ganzen Einstellung und Praxis nach ein Despot ist, der am liebsten völlig ohne parlamentarische Mitbestimmungsrechte und Kontrollen regiert. Es reicht aber nicht aus, bei diesen Feststellungen stehen zu bleiben und den militärischen Angriff auf das Weiße Haus nur als beispiellose Gewalttat gegen eine gewählte Volksvertretung darzustellen. Ebenso wahr ist ja auch, daß diesem Angriff der Versuch aus dem Parlament heraus vorangegangen war, beginnend mit dem Sturm auf das Fernsehen, den bewaffneten Kampf um die Macht auf die Tagesordnung zu setzen. Und wahr ist ebenso, daß im Weißen Haus nicht nur gewählte Volksvertreter einem Despoten trotzten, sondern daß es von einer Koalition nationalkommunistischer und rechtsextremer Kämpfer zu einer schwerbewaffneten Festung ausgebaut worden war.

Daß dieses brisante politische Gemisch genau in dem Moment, wo man in die Offensive zu kommen glaubte (am Sonntag dem 3. Oktober), als eines seiner ersten Ziele das Fernsehen in Ostankino ansteuerte, weckt Erinnerungen: Hier hatte sich das rot-braune Bündnis im Juni 1992 zum ersten Mal zu militanten Straßenaktionen zusammengefunden. Über etliche Tage hin hatte man damals das Fernsehzentrum belagert, um gegen dessen einseitig regierungshörige Ausrichtung zu protestieren und täglich eine Stunde Sendezeit für die eigenen politischen Botschaften zu fordern. Schließlich machte die Polizei den Aktionen auf sehr gewalttätige Weise ein Ende.

Diese Kampagne richtete sich nicht nur gegen die tatsächlich despotischen, anti-pluralistischen Methoden, mit denen Jelzin die Telemedien "gleichgeschaltet" hat und sich ihrer bedient. Zugleich ging es auch darum, eine der vermeintlichen Hochburgen des "jüdischen Einflusses" zu treffen. Daß vor allem die Medien fest in "jüdischer Hand" seien und für die Zerstörung Rußlands arbeiteten, gehört zu den Grundüberzeugungen der Rechtsextremisten. Ein Denken in solchen Kategorien ist aber auch vielen Altlinken nicht völlig fremd, nur daß man dort eher Begriffe wie "Kosmopoliten" oder "Wurzellose" bevorzugt. So waren während der damaligen Aktionen immer wieder unverhohlen antijüdische Parolen zu hören und zu sehen.

Einer der Organisatoren war damals Viktor Anpilow, Führungsmitglied der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei (RKRP) und Vorsitzender des Bündnisses "Trudowskaja Moskwa". In einem Interview befragt nach den antisemitischen Parolen, die auch schon bei der Moskauer Demonstration am 1. Mai 1992 aufgetaucht waren, sagte Anpilow: "Die Juden sind nicht die Gefahr für Rußland. Die Gefahr kommt vom Weltkapitalismus. 80 Prozent des Weltkapitals sind aber in der Hand jüdischer Familien. Die Interessen des Kapitals und der Juden sind dieselben." Er wartete dann noch mit gängigen antijüdischen Phantasiezahlen auf: 40 Prozent der Wissenschaftler und 60 Prozent der Kulturleute in Rußland seien Juden. (Neues Deutschland, 28.7.92)

Ein anderes Führungsmitglied der RKRP war während des Konflikts um das Weiße Haus und der bewaffneten Kämpfe um das Fernsehzentrum am 3. Oktober fast ebenso häufig wie Ruzkoi und Chasbulatow auf den Bildschirmen zu sehen: General a.D. Albert Makaschow, stets in einem abenteuerlich anmutenden halbmilitärischen Outfit und mit dem Habitus des verwegenen Bandenführers. Er ist typisch für jene Sorte "harter Altkommunisten", die sich nicht nur aus taktischen Gründen, sondern auch in ihrem ganzen Denken immer mehr rechte Positionen zu eigen machen. Im Sommer 1991 war Makaschow einer der Gegenkandidaten Jelzins um das Amt des Präsidenten und landete abgeschlagen bei 4 Prozent. Nach dem Putschversuch vom August 1991 verlor er seinen Posten als Befehlshaber des Militärbezirks Wolga-Ural.

Makaschow war einer der neun Ko-Vorsitzenden des im Oktober 1992 gegründeten breiten links-rechten Bündnisses Nationale Rettungsfront. Ein anderer Ko-Vorsitzender war Gennadi Sjuganow, Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), die mit angeblich 530.000 Mitgliedern als größte der zahlreichen KPdSU-Nachfolgeorganisationen gilt. (ND, 9.3.93) Zugleich war Sjuganow auch Ko-Vorsitzender eines weiteren links-rechten Volksfront-Unternehmens, des Russischen Nationalen Rates. Dort wiederum teilte er sich die Führungsposition mit dem ehemaligen KGB-General Alexander Sterligow. In seiner aktiven Dienstzeit war dieser für die Beobachtung der rechtsextremen Szene zuständig gewesen, und das scheint kräftig seine eigene geistige Entwicklung beeinflußt zu haben. Selbstverständlich will das Gerücht nicht verstummen, daß Sterligow immer noch recht gute Beziehungen zu manchen Kollegen seiner früheren Firma unterhalte. Überhaupt wird schon lange, seit dem Aufkommen der "Pamjat"-Gruppen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, von engen Verbindungen zwischen Funktionären des KGB und der rechtsextremen Szene gesprochen.

Eine Zentralfigur auf der rechtsextremen Seite der Allianz ist Alexander Prochanow, ehemals Redakteur der "Prawda", dann Herausgeber der Wochenzeitung "Djen" (Der Tag), die jetzt von Jelzin verboten wurde. Prochanow gehört zu den Ideologen der rot-braunen Kooperation: Beide Seiten müßten sich aussöhnen und vereinen "im Drang nach sozialer Gerechtigkeit und im Streben nach nationaler Größe". (Spiegel, 2.11.92) "Djen", dessen Auflage 1992 mit 100.000 angegeben wurde, war das publizistische Forum der Nationalkonservativen unterschiedlicher Couleur. Es öffnete sich zugleich aber auch nach "links". So konnte dort beispielsweise General Warennikow, einer der führenden Putschisten des August 1991, zu Wort kommen. Hymnische Beiträge warben um die Gunst der Repressionstruppe OMON ebenso wie von Vertretern der Militärindustrie. Anläßlich des zweiten Golfkriegs durfte selbstverständlich die Solidarisierung mit Saddam Hussein im "Djen" nicht fehlen. (FR, 18.7.92)

Über die reale Bedeutung der zahlreichen Bündnisse, Dachverbände, Zentren und Ausschüsse, die dem Zusammenkommen von Altlinken, Nationalkommunisten, Konservativen, Monarchisten, Nationalisten und Faschisten gewidmet waren, läßt sich wenig sagen - zumal sie nach dem Sieg Jelzins über die Parlamentsrevolte erst einmal alle illegalisiert sind. Gerade die verwirrende Vielzahl der Namen mit eigentlich identischer Funktion läßt darauf schließen, daß in diesen Bündnissen politisch kaum etwas koordiniert und organisiert wurde, sondern der Schwerpunkt auf der gemeinsamen Straßenaktion und der geistigen Annäherung lag.

Die Links-Rechts-Blockbildung im nach-sozialistischen Rußland sollte nicht einfach nach dem Analogie-Schema in einen der schon vorhandenen Kartons einsortiert, sondern im speziellen und aktuellen russischen Kontext begriffen werden. Beispielhaft sei hier aus einer Erklärung zitiert, die das Präsidium des Obersten Sowjets am 21. März dieses Jahres abgab, als es gerade wieder einmal im heftigen Konflikt mit Jelzin lag. In diesen Sätzen sind wesentliche gemeinsame Kritikpunkte und Argumentationsmuster enthalten, die von links wie rechts gegen die Politik Jelzins vorgebracht werden: "Heute verwandelt sich Rußland in ein rückständiges, abhängiges Land mit einem erniedrigten, ausgeraubten Volk. Gut leben können in Rußland heutzutage nur Diebe, Gauner, Mafiosi und solche, die räuberisch die reichsten Natur- und Rohstoffressourcen des Staates zum eigenen Nutzen und zum Nutzen ausländischen Kapitals ausbeuten." Es gelte, "jene zur Verantwortung zu ziehen, die die Großmacht an den Rand des Abgrunds getrieben haben". (Archiv der Gegenwart, 27.3.93)

Der Gegensatz Rußland und russisches Volk einerseits, Ausland und Fremde andererseits, spielt hier eine zentrale Rolle. Im nationalistischen Denken ist unausgesprochen klar, daß die Diebe, Gauner usw., die auf Kosten des russischen Volkes prosperieren, im Wesentlichen Nicht-Russen sind, genauer gesagt vor allem Angehörige der Kaukasus-Völker und Juden. Ebenso klar ist, daß die Politiker, die für den wirtschaftlichen Ruin und den politischen Niedergang verantwortlich gemacht werden, nicht einfach bloß Versager sind, sondern daß sie im direkten Dienst des Auslands, der kapitalistischen Staaten des Westens, handeln. Daß letzteres nicht absolut aus der Luft gegriffen ist - tatsächlich wird die Wirtschafts- und Finanzpolitik Rußlands weitgehend von IWF, G-7 und ähnlichen Gremien diktiert - macht die besondere Schlagkraft dieses Vorwurfs aus.

Daß Rußland bzw. die Sowjetunion die Position einer Weltmacht verloren hat, daß seine Wirtschaft und seine staatlichen Strukturen zerrüttet sind, daß es in tiefste finanzielle Abhängigkeit vom Westen geraten ist, daß eine totale Umwandlung gesellschaftlicher Werte und Verhaltensweisen stattfindet, daß diese vorwiegend die Züge einer Verwestlichung trägt - alles das ist ja wahr und wird natürlich nicht nur von dem winzig kleinen, rot-braun gemischten "letzten Aufgebot", das sich zur Verteidigung des Weißen Hauses versammelt hatte, schmerzlich empfunden.

Rußland und der Westen, das ist ein Thema, das nicht erst von der KPdSU entdeckt wurde. Die geschichtlich begründete sozio-ökonomische Rückständigkeit Rußlands ist schon seit Jahrhunderten eine Tatsache, die immer wieder als Herausforderung wirkte. Eine mögliche Antwort darauf war und ist, die Russen als ein "von Natur aus" unzivilisiertes und unselbständiges Volk zu betrachten, das nicht anders als durch westliche Entwicklungshilfe (kulturell wie finanziell) auf ein zeitgemäßes Niveau zu bringen sei. Die kontroverse Antwort versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie betont die besonderen Werte des russischen "Wesens" und der russischen Lebensweise, die dem modernistischen, oberflächlichen und materialistischen Westen weit überlegen seien. Nicht nur gelte es, sich auf dieses "spezifisch Russische" zu besinnen und daran festzuhalten, sondern Rußland habe darüber hinaus auch eine eigene geistige (und imperiale) Mission zu erfüllen.

In mancher Hinsicht stellte der Sozialismus sowjetischer Prägung eine Realisierung dieses Strebens dar. Fakt ist, daß Rußland erst in Gestalt der Sowjetunion zur Weltmacht Nr. 2 aufstieg. Bis zur Oktoberrevolution war es militärisch nur eine Größe zweiter Ordnung, und seine außenpolitischen Wirkungsmöglichkeiten waren, abgesehen von Osteuropa, minimal. Analog läßt sich die wirtschaftliche Entwicklung seit der Oktoberrevolution als ein grandioser Fortschritt beschreiben, auch wenn natürlich deren ökologische Auswirkungen beklagt werden müssen.

Von daher ist verständlich, daß viele russische Rechte zum ehemaligen Sozialismus sowjetischer Prägung ein ambivalentes Verhältnis haben: Einerseits kann er als Versuch interpretiert werden, Rußland wieder einmal ein "wesensfremdes" westliches Modernisierungsmodell überzustülpen. Andererseits läßt sich gar nicht ernsthaft bestreiten, daß gerade die sozialistische Epoche nach nationalistischen Kriterien die glanzvollste Zeit Rußlands gewesen ist. Aus diesem Fakt läßt sich leider für eine authentisch sozialistische Politik absolut nichts gewinnen, wohl aber bietet es vorübergehend eine Basis für links-rechte Blockbildungen.

Aus der Sicht der kapitalistischen Großmächte liegt hier vermutlich die größte Gefahr der weiteren Entwicklung: das Entstehen einer russischen Parallele zum "islamischen Fundamentalismus", einer militant antiwestlichen Ideologie, die sowohl zur Massenbewegung werden wie auch sich des Staates bemächtigen könnte. Das aber dann nicht in einem Land mit eng begrenzten Möglichkeiten wie dem Iran etwa, sondern auf dem größten Staatsterritorium der Welt, das immer noch die militärischen Mittel der Atommacht Nr. 2 besitzt.

Die Blockbildung der russischen Altlinken mit Nationalkonservativen und Rechtsextremen ist in jeder Hinsicht nicht nur ein Prinzipienfehler, sondern auch eine Falle. Unmittelbar erweist sich diese Konstellation als Argumentationshilfe für Jelzins Zerschlagung des Parlaments und seine weiteren antidemokratischen Maßnahmen. Dies vermutlich nicht so sehr in Rußland selbst, wo die meisten Menschen entweder jeder Politik skeptisch-gleichgültig gegenüberstehen oder nationalistische Argumentationslinien eher sympathisch als abstoßend finden. Gestärkt wird durch den Verweis auf die "kommunistisch-faschistische Gefahr" aber Jelzins Position im Westen, und das ist in der aktuellen Lage Rußlands nicht unwichtig, weil es die Handlungsfreiheit des Präsidenten gegenüber der Opposition vergrößert.

Schwerwiegender für die innere Entwicklung Rußlands ist, daß sozialistische Politik bei diesem Bündnis nichts gewinnen kann. Linke Inhalte spielen immer weniger eine Rolle, reduzieren sich auf die Zurschaustellung von Insignien der untergegangenen Sowjetmacht neben den Symbolen des Zarenreichs, der orthodoxen Kirche oder faschistischer Organisationen. Die Basis, die von den sich kommunistisch nennenden Organisationen noch zu mobilisieren ist, scheint zu stagnieren und folglich mehr und mehr zu altern. Die bedeutendste von ihnen, die KPRF, gibt das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder mit 50 an. Für die jungen Leute, die sich an den Aktionen des rot-braunen Blocks beteiligen, scheinen die weltanschaulichen und praktischen Angebote der Rechtsextremen (z.B. Kampfsport, Schießübungen) attraktiver als die nostalgische Verklärung des Lebens unter der KPdSU-Herrschaft.

Faschismus pur wird in Rußland vermutlich dennoch eine Randerscheinung bleiben. Aber einem aggressiven Nationalismus, wie ihn politisch etwa die Liberal-Demokratische Partei von Schirinowski repräsentiert - die sich aus dem Konflikt um das Weiße Haus klugerweise heraushielt und nicht verboten wurde -, einem solchen Nationalismus könnte durchaus die nähere Zukunft gehören. Dies um so mehr dann, wenn die kapitalistischen Mächte fortfahren, gegenüber Rußland eine Politik zu betreiben, die sämtlichen Klischees von der Verelendung und Demütigung des russisches Volks durch den Westen recht zu geben scheint.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 20. Oktober 1993