KNUT MELLENTHIN

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Regierungskrise in der Ukraine

Präsident erhebt Putschvorwürfe in alle Richtungen. Drohung mit Parlamentsauflösung.

Seit der „orangen Revolution“ von 2004 herrscht in der Ukraine fast permanent Regierungskrise. Ein wesentlicher Grund ist das persönliche Zerwürfnis zwischen den Führern der damaligen, westlich inspirierten „Revolution“, Julia Timoschenko – zur Zeit wieder einmal Regierungschefin – und Präsident Viktor Juschtschenko, das schon im Sommer 2005 deutlich wurde. Hauptthema sind gegenseitige Korruptionsvorwürfe, die allesamt nicht wirklich unwahrscheinlich klingen. Erstmals hatte der Präsident seine Partnerin im September 2005 entlassen, zeitweise sogar den Führer der pro-russischen Partei der Regionen, Viktor Janukowitsch, zum Ministerpräsidenten gemacht. Seit vorgezogenen Neuwahlen im September 2007 ist Timoschenko wieder im Amt.

Am 2. September 2008 gab Juschtschenkos Partei Unsere Ukraine ihren Ausstieg aus der Regierungskoalition mit dem Timoschenko-Block bekannt. Die Entscheidung fiel mit den Stimmen von 39 der anwesenden 64 Fraktionsmitglieder sehr knapp aus. Zuvor hatte der Timoschenko-Block Anfang der Woche gemeinsam mit der oppositionellen Partei der Regionen und den Kommunisten eine Reihe von Gesetzen beschlossen, die die weitgehenden Machtbefugnisse des Präsidenten einschränken. Unter anderem soll er das Recht verlieren, dass der Regierungschef, der Außenminister und der Verteidigungsminister nur mit seiner Zustimmung eingesetzt werden können. Ferner entfällt künftig die Verpflichtung der Regierung, Dekrete des Präsidenten auszuführen und Gesetze nach seinen Anordnungen zu formulieren.

Juschtschenko droht jetzt mit Neuwahlen. Laut Verfassung könnte er das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen, falls nicht innerhalb von 30 Tagen eine neue Regierung gebildet wird. Eine wirkliche Drohung ist das allerdings nicht, weil sich der Präsident zur Zeit auf einem Tiefpunkt seiner Popularität befindet: Nur noch sechs Prozent der Bevölkerung stimmen seiner Politik zu. Würde demnächst gewählt, käme seine Partei Unsere Ukraine laut Umfragen nur auf 3,9 Prozent. Vorne lägen die Partei der Regionen (26,6 Prozent) und der Timoschenko-Block (22,2 Prozent). Selbst die Kommunisten würden voraussichtlich mit 5,4 Prozent stärker als die Präsidenten-Partei. Bei Präsidentschaftswahlen könnte Juschtschenko derzeit mit 4,7 Prozent rechnen, Timoschenko mit 22,5 Prozent und Janukowitsch von der Partei der Regionen mit 27,8 Prozent.

Juschtschenko schlägt jetzt aggressive Töne an, von denen er sich offenbar Unterstützung durch USA und EU erhofft. Im Parlament habe ein „politischer und verfassungsrechtlicher Putsch“ begonnen. Mit den beschlossenen „verfassungsfeindlichen“ Gesetzen werde „die Diktatur der Premierministerin errichtet“. „Die Basis dieser Formation – gemeint ist das taktische Bündnis zwischen dem Timoschenko-Block und der Opposition – ist nicht ukrainisch. Ich unterstreiche: nicht ukrainisch.“

Jutschschenko versucht, damit zu punkten, dass er seine Gegner als pro-russische Agenten landesverräterischer Machenschaften gegen die Ukraine diffamiert. Schon im August war gemeldet worden, dass der Präsident den Sicherheitsdienst angewiesen hat, gegen Julia Timoschenko und andere Regierungsmitglieder wegen „illegaler Aktivitäten“ zu ermitteln, die „die nationalen Interessen des Landes gefährden“ könnten. Es soll untersucht werden, ob ihr Verhalten als „Landesverrat“ oder „politische Korruption“ einzustufen ist.

Timoschenko hat sich der antirussischen Kampagne von Juschtschenko im Zuge der Kaukasus-Krise und seiner zur Schau gestellten Kumpanei mit dem georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili bisher nicht angeschlossen. Das ist in der Tat auffällig, da sie sich früher an militanter Russophobie von niemand  überbieten ließ. Nach vorherrschender Interpretation hat der jetzige Streit der beiden einstigen Weggefährten viel mit der Vorbereitung auf die nächste Präsidentenwahl zu tun, die Ende 2009 oder Anfang 2010 ansteht. Am Mittwoch hat Timoschenko ihren Rivalen aufgefordert, in die Regierungskoalition zurückzukehren, und hat zugleich ihre Bereitschaft angekündigt, auf eine Kandidatur für das Präsidentenamt zu verzichten.

Knut Mellenthin

Erweiterte Fassung eines am 5. September in der Jungen Welt erschienenen Artikels