KNUT MELLENTHIN

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Russland meldet sich zurück

In Russland hat eine gründliche Überprüfung und Neubestimmung der Außenpolitik begonnen, die das Land seit der überstürzten, planlosen Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 betrieben hat. Letzter Auslöser, aber keineswegs alleiniger Grund sind die feindseligen Reaktionen des Westens auf die Rolle Russlands bei der Abwehr des georgischen Überfalls auf Südossetien. Dass Russland, von der Bevölkerung bis zur politischen Führung, mit der seit Anfang der 1990er Jahre entstandenen globalen Situation schon länger zutiefst unzufrieden ist, war spätestens aus der Rede von Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 10. Februar 2007 deutlich geworden. Die nüchterne Bestandsaufnahme des damaligen Präsidenten war von westlichen Medien mit Überschriften wie „Putin droht den USA“ und „Russland eröffnet neuen kalten Krieg“ kommentiert und zugleich in ihren wesentlichen Inhalten ignoriert worden.

Mit der westlichen Schützenhilfe für den georgischen Überfall auf Südossetien und der infamen Verurteilung Russlands als Aggressor war jetzt definitiv der Wendepunkt erreicht. „Russland ist auf die Weltbühne zurückgekehrt als verantwortlicher Staat, der seine Bürger verteidigen kann“, stellte Außenminister Sergej Lawrow am Montag in einer Ansprache vor Studenten der Diplomaten-Akademie in Moskau fest. „Amerika muss die Realität einer post-amerikanischen Welt anerkennen und damit beginnen, sich ihr anzupassen.“ „Der Versuch, (der USA), in ihrer eigenen unipolaren Welt zu leben, dauert an, und das ist in jeder Beziehung gefährlich.“ „Es scheint, dass die NATO wieder Frontstaaten braucht, um ihre Existenz zu rechtfertigen.“ Die Ost-West-Krise um den Georgien-Konflikt sei „ein Moment der Wahrheit“, sagte Lawrow, und „die heutige Klarheit ist besser als jede Zweideutigkeit“.

Ähnlich äußerte sich Putin am Sonnabend in einem Interview mit der ARD, die das fast halbstündige Gespräch jedoch auf nur neun Minuten zusammen schnitt und es erst vollständig zeigte, nachdem es im russischen Fernsehen zu sehen gewesen war. Zur Frage, ob Russland nicht Angst vor der von US-amerikanischen und europäischen Politikern angedrohten „Isolierung“ habe, sagte Putin: „Ich bin überzeugt, dass das Ansehen eines jeden Landes, das im Stande ist, das Leben und die Würde seiner Bürger zu verteidigen, eines Landes, das eine unabhängige Außenpolitik betreiben kann, dass das Ansehen eines solchen Landes mittel- oder langfristig steigen wird.“ Russland werde „nicht in Isolation geraten, ungeachtet dessen, was unsere Partner in Europa und USA im Rahmen ihres Blockdenkens sagen. Mit Europa und den USA endet die Welt nicht.“ - Mit dem vom Westen praktizierten „Recht des Stärkeren“, wie es sich beispielsweise in der völlig ungleichen Behandlung der wesensähnlichen Probleme Kosovo und Südossetien/Abchasien zeige, könne Russland sich nicht abfinden, warnte Putin.

Präsident Dmitri Medwedew fasste am Sonntag in einem russischen Fernsehinterview die Grundsätze seiner Außenpolitik in fünf Punkten zusammen:

  • Erstens: „Russland anerkennt die herausragende Bedeutung der Prinzipien des internationalen Rechts, die die Beziehungen zwischen zivilisierten Völkern definieren.“
  • Zweitens: „Die Welt muss multi-polar sein. Eine uni-polare Welt ist inakzeptabel. Vorherrschaft ist inakzeptabel. Wir können keine Weltordnung akzeptieren, in der alle Entscheidungen von einem einzigen Land getroffen werden. (...) Eine solche Welt ist instabil und birgt das Risiko von Konflikten.“
  • Drittens: „Russland will keine Konfrontation mit irgendeinem anderen Land. (...) Russland will, soweit wie möglich, seine Beziehungen zu Europa, den USA und den anderen Ländern der Welt entwickeln.“
  • Viertens: „Absolute Priorität hat für uns die Verteidigung des Lebens und der Würde unserer Bürger, ganz gleich, wo sie leben. (...) Und jeder sollte begreifen, dass jemand, der ein aggressives Unternehmen startet, eine Antwort erhalten wird.“
  • Fünftens: „Es gibt Regionen, wo Russland privilegierte Interessen hat, ebenso wie bei anderen Ländern der Welt. Es gibt in diesen Regionen Länder, mit denen wir traditionell durch freundschaftliche, gutnachbarliche, historisch spezielle Beziehungen unterhalten.“

Die mit diesen Punkten nur grob angerissene Neubestimmung der russischen Außenpolitik enthält auch das mehr oder weniger offen angesprochene selbstkritische Fazit, dass in der Vergangenheit vieles schiefgelaufen ist, insbesondere in der chaotischen Jahren unter Boris Jelzin, die auf die Liquidierung der Sowjetunion – von Putin schon vor einiger Zeit als politischer Super-Gau bezeichnet – folgten.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 3. September 2008