KNUT MELLENTHIN

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Der Traum vom Öl-Boom

Somalia hat seit Mittwoch voriger Woche eine neue Verfassung. Angenommen wurde sie von einer 825 Personen umfassenden Versammlung, deren Zusammensetzung undurchschaubar und keinesfalls demokratisch legitimiert war. Das selbe Gremium soll nun möglichst schnell auch die 275 Abgeordneten bestimmen, die an die Stelle der derzeitigen Parlaments treten sollen, in dem 475 Mandate zu verteilen waren. Bis zum 20. August, keinesfalls später, soll das neue Abgeordnetenhaus nach einem von der „internationalen Gemeinschaft“ diktierten Zeitplan den nächsten Präsidenten des Landes wählen. Allgemein wird erwartet, dass die Entscheidung zwischen dem derzeitigen Amtsinhaber Sharif Sheikh Ahmed und Premierminister Abdiweli Mohamed Ali Gas fallen wird.

Die neue Verfassung definiert Somalia als föderativen Staat in den Grenzen, die das Land bei Erlangung der Unabhängigkeit 1960 hatte. Das schließt die frühere britische Kolonie Somaliland ein, das seit 1991 als de facto selbständiger Staat – wenn auch international nicht anerkannt – existiert. Somaliland lehnt es jedoch ausdrücklich ab, sich an dem von der „internationalen Gemeinschaft“ gesteuerten Prozess der Rekonstruktion Somalias zu beteiligen.

Den einzelnen Bundesstaaten wird in der jetzt vereinbarten Verfassung weitgehende Autonomie zugesichert. Kompliziert ist allerdings die Frage, welche möglichen Anwärter auf diesen Status wirklich als Bundesstaaten betrachtet werden sollen. Bewerber gibt es mehr als ein Dutzend, von denen einige aber gar nicht real existieren und andere das von ihnen beanspruchte Gebiet nicht vollständig beherrschen. Bei mehreren von ihnen überschneiden sich die territorialen Wünsche sogar. Praktisch wurde das Problem jetzt so gelöst oder richtig gesagt verschoben, dass erst das noch zu bildende neue Parlament die Zahl und die Grenzen der Bundesstaaten in einem Gesetz regeln soll. Vorher soll zur Untersuchung der damit verbundenen Fragen ein Ausschuss eingesetzt werden, dessen Arbeit wahrscheinlich beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen wird.

Zur Zeit erkennt die Regierung in Mogadischu nur zwei Gebilde als Bundesstaaten an, nämlich das über 200.000 qkm große Puntland im Nordosten und das mit 46.000 qkm sehr viel kleinere Galmudug oder Galmadug, das wie ein Riegel zwischen Puntland und dem übrigen Somalia liegt. Chancen auf eine Anerkennung in absehbarer Zeit kann sich außerdem am ehesten Jubaland, auch Azania genannt, ausrechnen. Es liegt im äußersten Südosten Somalias, grenzt in ganzer Länge an Kenia, und wird vom Regime in Nairobi, das dort seit Oktober vorigen Jahres mit Tausenden von Soldaten präsent ist, protegiert. Das von Azania beanspruchte Territorium ist 87.000 qkm groß, was sich allerdings nur auf interne Grenzen der italienischen Kolonialverwaltung stützen kann, wie sie vor rund 90 Jahren bestanden. Ein großer Teil dieses Gebiets wird entweder von den Islamisten der Al-Schabab oder lokalen Unterclans und Warlords kontrolliert.

Ein zentraler Punkt, der in der Vergangenheit immer wieder für Streit zwischen dem seit 1998 de facto selbstständigen Puntland und der Regierung in Mogadischu gesorgt hatte, wurde in der neuen Verfassung elegant umschifft. Es ist dies die Verfügung über die Bodenschätze Somalias, wobei gegenwärtig das Erdöl am brisantesten ist. Dazu besagt Artikel 44: „Die Aufteilung der natürlichen Resourcen des Bundesrepublik Somalia soll zwischen der Bundesregierung und den föderativen Mitgliedstaaten ausgehandelt und vereinbart werden.“ Damit wurde im letzten Stadium der Diskussionen ein Kompromiss gefunden, ohne den Puntland wahrscheinlich aus dem Prozess ausgestiegen wäre.

Hintergrund ist, dass die unter dem Boden Somalias und vor seinen Küsten vermuteten ausbeutbaren Erdöl- und Erdgasvorkommen nach den bisherigen Studien und Erkentnissen überwiegend in Puntland und teilweise auch in dem an dieses angrenzende Somaliland zu liegen scheinen. Die puntländische Regierung hatte schon im Jahr 2005 eine großflächige Lizenz für Probebohrungen an das relativ kleine, im australischen Perth ansässige Unternehmen Range Resources Ltd. vergeben. Auf ihrer Website nennt die Firma neben „Puntland, Somalia“ als einzigen weiteren Schwerpunkt ihrer Tätigkeit Georgien. Das Parlament in Mogadischu konterte mit einem Gesetz, das alle nicht von der Zentralregierung abgeschlossenen Verträge dieser Art für null und nichtig erklärte. Danach lag die Sache erst einmal ein paar Jahre auf Eis. Range Resources verkaufte einen Teil seiner Rechte weiter, blieb aber grundsätzlich engagiert.

Im Januar dieses Jahres begannen schließlich – vermutlich mit dem Segen Mogadischus – doch noch Probebohrungen in zwei ausgewählten Zonen Puntlands, dem Dharoor Valley Block im Norden der autonomen Republik und dem Nogal Valley Block. Das dort vermutete Vorkommen zieht sich im weiteren Verlauf durch Somaliland hindurch bis zum Golf von Aden. Vielleicht nicht völlig zufällig und grundlos ist die Grenzziehung zwischen Puntland und Somaliland in diesem Bereich heftig umstritten und war auch schon Gegenstand militärischer Auseinandersetzungen.

Federführend für die gegenwärtigen Probebohrungen, die ersten seit Beginn des Bürgerkriegs vor 21 Jahren, ist mittlerweile die in Vancouver ansässige Horn Petroleum Corporation. Sie befindet sich mehrheitlich im Besitz der ebenfalls kanadischen Firma Africa Oil, die neben Somalia auch in Kenia, Äthiopien und Mali engagiert ist. Horn Petroleum hält 60 Prozent der derzeit in Puntland vergebenen Lizenzen und scheint ausschließlich zu diesem Zweck gegründet worden zu sein. Daneben sind mit je 20 Prozent auch Range Resources und das ebenfalls im australischen Perth beheimatete Unternehmen Red Emperor Resources beteiligt. Knapp zwei Wochen nach Aufnahme der Bohrungen stattete der britische Entwicklungsminister Andrew Mitchell, als erster Minister seines Landes überhaupt, der puntländischen Hauptstadt Garowe einen Besuch ab und machte der dortigen Staatsführung seine Aufwartung.

Indessen gab Horn Petroleum im Mai den Abbruch seiner ersten Probebohrung bekannt, nachdem in 3.400 Meter Tiefe eine Gesteinsschicht erreicht worden war, unter der im Allgemeinen weder Öl noch Gas erwartet werden. Die Aktien des Unternehmens verloren daraufhin an der Börse von Toronto schlagartig die Hälfte ihres Kurswerts. Mitte Juli meldeten dann Red Emperor und Range Resources, dass an einer anderen Bohrstelle in einer Tiefe von 1.900 Meter möglicherweise Öl gefunden worden sei. Wenige Tage später stand jedoch nach mehreren Tests fest, dass die angebohrte Zone ausschließlich Wasser „ohne jede Spur von Öl“ enthielt. Auch in diesem Fall war die unmittelbare Wirkung auf die Börsenkurse der beiden australischen Firmen durchschlagend.

Angesichts der seit mindestens zwanzig Jahren kursierenden Gerüchte, die Somalia oder zumindest dessen Norden als Erdöl-Eldorado darstellen, ist sachlich zu konstatieren, dass das Land nach herkömmlichen Kriterien bis heute absolut keine „proved reserves“, also wirklich nachgewiesene Vorkommen, aufzuweisen hat. Einzelne waghalsige Veröffentlichungen, nach denen Somalia einschließlich seiner Territorialgewässer „bis zu“ 110 Milliarden Barrel Erdöl besitzen könnte, kann man getrost vergessen. Das brächte das Land an die fünfte Position der Welt, hinter Venezuela, Saudi-Arabien, Kanada, Iran und Irak. Sachliche Anhaltspunkte für eine solche Hypothese gibt es bisher nicht.

Realistische Schätzungen der somalischen Reserven liegen gegenwärtig zwischen vier und allerhöchstens zehn Milliarden Barrel. Als irrealer Ausreißer muss die Angabe auf der Website von Red Emperor Resources gelten, dass allein die Erdölvorräte in den bisherigen Lizenzgebieten Dharoor und Nogal Valley auf „möglicherweise“ mehr als 19,9 Milliarden Barrel geschätzt würden. Der Hintergrund liegt auf der Hand: Nicht nur in Somalia treten in der riskanten Pionierphase der Probebohrungen oft relativ kleine Unternehmen als kombinierte Minenhunde und Trüffelschweine auf. In der Oberliga der Erdölförderer könnten sie selbst aber gar nicht mitspielen. Ihr zentrales Anliegen ist letztlich nur, ihre Lizenzen zum richtigen Zeitpunkt mit hohem Gewinn weiterzuverkaufen. Viele Meldungen und Berichte, beispielsweise auch über den Umfang von Erdöl- und Naturgasvorkommen in anderen Teilen Ostafrikas, sind von solchen finanziell direkt interessierten Quellen beeinflusst, also schlicht gesagt stark übertrieben.

Mit der vielleicht eben noch realistischen Maximalschätzung von zehn Milliarden Barrel läge Somalia gerade mal an 19. Stelle der Weltrangliste, zwischen Mexiko und Aserbaidschan. Wohlgemerkt, im besten Fall. Mit vier Milliarden Barrel befände das Land sich in der Größenordnung von Ägypten oder Vietnam.

Die unbegründeten Vorstellungen über Somalias vermeintlichen Erdöl-Reichtum sind, wie schon gesagt, mindestens zwanzig Jahre alt. In den Jahren zwischen 1986 und 1989 hatte das Regime von Siad Barre nacheinander Bohrlizenzen für einen Großteil Somalias – darunter das gesamte heutige Puntland und rund die Hälfte Somalilands – mitsamt der angrenzenden Küstengewässer an eine Reihe von US-amerikanischen und internationalen Großunternehmen wie Shell, AGIP, Amoco, Chevron, Phillips Petroleum Corporation und Conoco (diese beiden Gesellschaften haben sich 2002 zusammengeschlossen), vergeben. Viele Linke waren damals überzeugt, und einige sind es heute immer noch, dass der Hauptzweck der US-amerikanischen, dann von der UNO übernommenen Militärintervention in Somalia (Dezember 1992 bis März 1995) darin bestanden habe, nach dem Sturz Barres (Januar 1991) und dem Beginn eines landesweiten Bürgerkriegs wieder stabile Verhältnisse herzustellen, um den beteiligten Konzernen die Ausbeutung der angeblich vermuteten riesigen Ölvorkommen zu ermöglichen.

Letztlich ist keine Verrücktheit bei Politikern völlig sicher auszuschließen. Der schnelle, geradezu überstürzte Rückzug der USA aus der UN-Intervention nach dem an sich nicht sehr bedeutenden Black-Hawk-Zwischenfall (Oktober 1993) ist allerdings ein deutliches Indiz, dass in Wirklichkeit keine großartigen wirtschaftlichen Interessen auf dem Spiel standen. Die Konzerne hatten die Lizenzen offenbar erworben, weil sie erstens von Barre billig zu haben waren und weil zweitens kurz zuvor (1984) im Jemen bedeutende – jedoch keineswegs riesige - Erdölvorkommen entdeckt worden waren. Jemen, Somalia, und ein sich südlich anschließender Teil Ostafrikas bilden bekanntermaßen erdgeschichtlich eine Einheit. Daher lag die nur auf Theorien und Erfahrungen, aber nicht auf positive Bohrergebnisse gestützte Vermutung nahe, dass man auch in Somalia mit ähnlichen Vorkommen wie im Jemen rechnen könne.

Heute ist jedoch zu erkennen, dass die jemenitischen Öl- und Gas-Reserven im Vergleich zu den führenden Förderländern, darunter das benachbarte Saudi-Arabien und andere Staaten der arabischen Halbinsel, relativ gering waren. Der Analogieschluss könnte, gerade wegen der geologischen Übereinstimmungen, auch für Somalia gelten. Derzeit rangiert Jemen mit 3,2 Milliarden „proved reserves“ an 29. Stelle der Weltrangliste. Prognosen gehen davon aus, dass die jemenitischen Reserven nur noch etwa zwölf Jahre reichen. Gegenwärtig machen die Erdöleinnahmen 75 Prozent seines Staatshaushalts und 90 Prozent seines Exports aus. Im Jahre 2024 könnte das Land seine wichtigsten Resourcen aufgebracht haben, ohne einer Konsolidierung und Modernisierung seiner Wirtschaft wesentlich näher gekommen zu sein. Somalia droht, selbst wenn irgendwann tatsächlich Öl in erheblichen Mengen gefördert würde, letztlich ein ähnliches Schicksal.

Die wirtschaftliche Perspektive des Landes wird zusätzlich dadurch verdüstert, dass seine Führungsschicht zu den korruptesten der ganzen Welt gerechnet wird und sich außerdem mittlerweile mindestens 20.000 Soldaten aus fünf Ländern – Uganda, Burundi, Kenia, Äthiopien und Dschibuti – in Somalia aufhalten. Zu ihnen wird in Kürze auch noch Sierra Leone kommen, dessen 800 bis 1000 Mann starkes Kontingent bereits ausgebildet wird. Kenia und Äthiopien sind als Nachbarstaaten unmittelbar daran interessiert, sich Einflusszonen zu sichern, indem sie somalische Bürgerkriegsparteien in Protektion nehmen und Autonomiebestrebungen fördern. Uganda, das derzeit am meisten Soldaten in Somalia hat, ist diesem zwar nicht benachbart, hat aber ein Militär, das dafür bekannt ist, seine Interventionen zur Ausplünderung der Rohstoffe im „Gastland“ auszunutzen.

Kenias Intervention verbindet sich außerdem mit einem jahrzehntelangen Grenzkonflikt zwischen beiden Ländern – und neuerdings auch mit möglichen Ölinteressen. Der militärische Einmarsch in den Süden Somalias – die drei Regionen (Verwaltungseinheiten) Gedo sowie Unter- und Mitteljuba, die zusammen das beanspruchte Territorium des im April 2011 in Nairobi gegründeten Phantasiestaates Azania bilden – begann am 15. Oktober vorigen Jahres. Genau eine Woche vorher hatte das Parlament in Mogadischu ein Gesetz verabschiedet, das es zum Verbrechen erklärte, die von Somalia beanspruchte 200-Meilenzone vor der Küste zur Disposition zu stellen. Das beträfe unter anderem einen Teil des Seegebiets, in dem die kenianische Regierung ausländischen Unternehmen Lizenzen für die Suche nach Öl und Erdgas erteilt hat.

Das umstrittene Seegebiet gehört zum Lamu-Becken, einer erdgeschichtlich einheitlichen Zone, die sich vom Norden Tansanias durch ganz Kenia bis weit hinein nach Somalia erstreckt. Der gesamte Osten Kenias ist in westlich-östlich orientierte Lizenzgebiete, sogenannte Blöcke, verschiedener Firmen und Konzerne, darunter auch die französische Total und die italienische ENI, parzelliert. Alle Blöcke enden derzeit exakt an der Grenze zu Somalia, obwohl potentielle Vorkommen sicher beiderseits der Grenze lägen. Durch den Einmarsch seiner Streitkräfte beherrscht das kenianische Regime nun auch den somalischen Teil dieser Zone. Mit Hilfe seines Vasallenstaates Azania könnte es diese Position künftig noch ausbauen und auch den Streit um die Seegrenze in seinem Sinne entscheiden.

Seit einigen Jahren wird, nicht zuletzt unter dem Einfluss direkt interessierter Wirtschafts- und Finanzkreise, eine Art Goldgräberstimmung hinsichtlich eines „entstehenden Öl-Booms“ im gesamten Ostafrika verbreitet. Berichtet wird über umfangreiche Erdgaslager in den Küstengewässern von Mosambik, Tansania, Madagaskar und Kenia, sowie über die Entdeckung von Erdölvorkommen im Gebiet des Albert-Sees, wo die umstrittene Grenzziehung zwischen Uganda und Kongo bereits auf einen kommenden Verteilungskonflikt hindeutet. Schätzungen über die dortigen Reserven weisen allerdings eine beachtliche Schwankungsbreite von einer bis zu sechs Milliarden Barrel auf. Das ist schon ein Indiz, dass man sich nicht ausschließlich im wissenschaftlichen Bereich bewegt. Mosambik soll 15 bis 30 Billionen Kubikfuß Erdgas besitzen – mehr als Norwegens gesamte Reserven -, Tansania sogar mindestens doppelt so viel.

Tatsache ist indessen, dass im großen Stil bisher nur im Sudan Erdöl gefördert wird. Das freilich schon seit Jahren. Die dortigen „proved reserves“ werden auf knapp sieben Milliarden Barrel geschätzt. Das bedeutet den 20. Platz auf der Weltrangliste. Ungefähr drei Viertel davon liegen im Gebiet des vor einem Jahr neu gegründeten Staates Südsudan, der aber sein gefördertes Öl bisher nur über den Sudan transportieren und vermarkten kann. Trotz prognostiertem Boom im Osten des Kontinents kommen gegenwärtig immer noch über 90 Prozent des aus Afrika exportierten Erdöls aus den klassischen Förderländern. Das sind hauptsächlich Libyen, Nigeria, Angola, Algerien und eben Südsudan.

Die Führung des neuen Staates, der fast ausschließlich vom Ölexport lebt, hat gerade ihre hochfliegenden Hoffnungen zu Grabe tragen müssen, sich mit westlicher oder chinesischer Hilfe ganz schnell aus der Transportabhängigkeit vom Sudan zu befreien. Die Regierung in Juba hatte die Erdölförderung im Januar eingestellt, weil ihr die von Khartum verlangten Pipelinegebühren viel zu hoch erschienen. Vor ein paar Tagen hat man sich jedoch weitgehend geeinigt, nicht zuletzt unter US-amerikanischem Druck. Denn selbst wenn das Binnenland Südsudan sich irgendwann eine Alternative für den Abtransport seines Öls schaffen könnte, hätte die Durststrecke bis dahin durch hohe westliche Zuwendungen überbrückt werden müssen.

Das nicht aufgegebene Hauptprojekt Südsudans ist der Bau einer Pipeline zum kenianischen Hafen Lamu, der sich allerdings noch im Auf- und Ausbau befindet. Mit 1.700 Kilometern wäre diese Transportlinie etwas länger als die derzeit schon existierende Pipeline zum sudanischen Hafen Port Sudan am Roten Meer (1.540 km). Die Regierung in Juba gab die Bauzeit des Projekts, für die angeblich schon der japanische Konzern Toyota als einer der Träger gewonnen worden sein soll, bisher mit einer recht willkürlich erscheinenden Bandbreite zwischen einem und drei Jahren an. Die Kosten sollen, gleichfalls nach südsudanesischen Angaben, bei ungefähr vier Milliarden Dollar liegen. Ob das überhaupt realistisch ist, sei dahingestellt. Das vordringliche Problem, die Anwerbung von Geldgebern, ist jedenfalls vorerst ungelöst und Hilfe noch nicht in Sicht. Die Hoffnung, dass die Chinesen einspringen könnten, hat sich offenbar schon zerschlagen: Die Realisierung des Projekts würde den Sudan einer wesentlichen Einnahmequelle, der Pipelinegebühren, berauben. Dazu will China, das um gute Beziehungen zu beiden sudanesischen Staaten bemüht ist, seine Hand nicht reichen.

Die Probleme sind aber in Wirklichkeit noch weitaus größer, und damit sind wir wieder bei der Goldgräberstimmung – oder dem Versuch, eine solche künstlich zu produzieren. Denn aus kenianischer Sicht ist das Pipeline-Projekt, über das bereits ein unverbindliches Rahmenabkommen mit dem Südsudan geschlossen wurde, nur Teil eines gigantischen Zukunftstraums. Dieser wird in Nairobi mit dem Kürzel LAPSSET bezeichnet. Es steht für „Lamu Port Southern Sudan and Ethiopia Transport Corridor“. Das beinhaltet unter anderem auch den Bau von Straßen und Eisenbahnen, die Erweiterung des Hafens Lamu, den Bau einer großen Ölraffinerie bei Bargoni und von drei neuen Flughäfen. Die Gesamtkosten von LAPSSET werden, möglicherweise sogar noch zu niedrig, auf 23 Milliarden Dollar geschätzt. Dass diese Summe aber tatsächlich aufgebracht werden könnte, scheint trotz grundsätzlichem Interesse besonders von chinesischer und japanischer Seite an einzelnen Teilen des Gesamtplans jenseits der Realität und des Vorstellbaren zu liegen. LAPSSET könnte damit durchaus zum Symbol für den Traum vom großen Öl- und Erdgasglück in Somalia und ganz Ostafrika werden.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 8. August 2012