KNUT MELLENTHIN

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Der perfekte Krieg

Der Westen bestreitet zivile Opfer seines Luftkriegs gegen Libyen.

In Libyen hat nach der offiziellen Version des westlichen Bündnisses der perfekte Krieg stattgefunden: Nicht ein einziger „Zivilist“ kam bei den Bomben- und Raketenangriffen der NATO zu Schaden. Und so konnte der Generalsekretär der Allianz, Anders Fogh Rasmussen, im November stolz erklären: „We have carried out this operation very carefully, without confirmed civilian casualties“ - Wir haben diese Operation sehr sorgfältig durchgeführt, ohne bestätigte zivile Verluste.

Die Betonung liegt auf dem Wort „confirmed“: Die NATO betrachtet ausschließlich solche Verluste als „bestätigt“, die sie selbst festgestellt hat. Da die Allianz aber keinerlei Untersuchungen vorgenommen hat oder künftig vorzunehmen gedenkt, kann es per Definition grundsätzlich keine „bestätigten“ zivilen Opfer ihrer Angriffe gegeben haben.

Inzwischen, mehrere Wochen nach dem strahlenden Fazit ihres Generalsekretärs, ist die NATO immerhin so weit, dass sie angesichts einer Fülle eindeutiger Berichte nicht mehr mit allerletzter Sicherheit ausschließen will, dass es vielleicht doch den einen oder anderen unglücklichen Kollateralschaden gegeben haben könnte. Das zu prüfen und festzustellen sei jedoch ausschließlich Sache der „rechtmäßigen“ Regierung Libyens, die gerade vom Westen an die Macht gebombt wurde. Die aber zeigt naturgemäß an einer Untersuchung nicht das geringste Interesse: Hat sie doch, und das ist ganz wörtlich zu verstehen, selbst viel zu viele Leichen im Keller. Außerdem: Für etliche zivile Ziele, die von Bomben und Raketen der NATO zerstört wurden, hatten Rebellen Beschreibungen und Koordinaten geliefert.

Da kann Russland sich vergeblich anstrengen. Am Donnerstag vor Weihnachten trug der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Witali Tschurkin, im Sicherheitsrat erneut die Forderung nach einer von der UNO mandatierten Untersuchung des Luftkriegs gegen Libyen vor. Eine solche Untersuchung sei von größter Bedeutung, „weil die Führer der NATO uns anfangs glauben machen wollten, dass es null zivile Verluste ihrer Bombenkampagne gegeben habe“. Tschurkin kritisierte in diesem Zusammenhang auch UN-Generalsekretär Ban Ki-mun für seine Aussage, die NATO habe vollständig ihr vom Sicherheitsrat erteiltes Mandat erfüllt, die libysche Zivilbevölkerung zu schützen.

Wenige Tage zuvor hatte die NATO-Pressesprecherin Oana Lungescu wieder einmal behauptet, die Allianz habe keine Zahlen über zivile Opfer. Sie reagierte damit auf eine umfangreiche Darstellung der New York Times, die am 17. Dezember erschienen war. Reporter und Zuarbeiter der Tageszeitung hatten mehrere Wochen lang an rund 25 Orten in Libyen recherchiert, aus denen Verluste unter der Zivilbevölkerung in Folge von Luftangriffen gemeldet worden waren.

Zusammenfassend kamen die Verfasser des Artikels zur Feststellung, dass „insgesamt mindestens 40 Zivilisten und vielleicht mehr als 70 an diesen Stellen von der NATO getötet wurden“. Darunter seien mindestens 29 Frauen oder Kinder gewesen. Diese Zahlen sind, selbst wenn man nur die von der New York Times geschilderten Einzelfälle addiert, eindeutig zu niedrig. Allein bei einem einzigen Angriff, am 8. August auf Wohnhäuser in Majer, kamen nach einer Namensliste, die von der neuen Regierung geliefert wurden, mindestens 35 Bewohner ums Leben. Die damaligen libyschen Behörden hatten die Zahl der Todesopfer mit 85 angegeben. Insgesamt waren nach einer Veröffentlichung des libyschen Gesundheitsamtes schon bis zum 13. Juli durch die NATO-Luftangriffe 1.108 Zivilisten getötet und 4.500 verletzt worden.

Die Redaktion der New York Times hat sich offenbar darauf beschränkt, eine sehr gut gesicherte Minimalzahl der zivilen Toten zu produzieren. Das ist unter den gegebenen Umständen – vor allem angesichts der hartnäckigen Ignoranz der NATO und der westlichen Regierungen - methodisch ein durchaus sinnvolles Vorgehen. Die Zeitung schildert außerdem mehrere Fälle, bei denen die NATO besonders infam operierte: Dem ersten Angriff folgte im Abstand von einigen Minuten ein zweiter, der sich nun gegen die Menschen richtete, die zum Helfen herbeigeeilt waren. Die New York Times erwähnt auch die Luftattacken auf die Privatwohnungen von Militärs und Politikern, bei denen zahlreiche Familienmitglieder getötet oder verletzt wurden. Offiziell wurden diese Objekte von der NATO als „getarnte Kommandozentralen“ deklariert. Die Hinweise kamen in der Regel von Rebellen und Überläufern.

Das offen und demonstrativ erklärte absolute Desinteresse der NATO an einer Aufklärung der Folgen ihrer Luftangriffe gegen Libyen setzt ein klares Zeichen für die Zukunft. Mit einer ähnlichen Kaltschnäuzigkeit wurde oder wird nicht einmal im Irak und in Afghanistan operiert. Immerhin hat oder hatte es die NATO dort mit Regierungen und Behörden zu tun, die sich zwar in einem Abhängigkeitsstatus befinden, aber die schon aus Gründen ihres innenpolitischen Ansehens gelegentlich kritische Fragen an ihre westlichen „Beschützer“ stellen.

Das Leugnen oder Ignorieren der zivilen Opfer in Libyen hat offenbar auch damit zu tun, dass dieser Krieg einen Modellcharakter bekommen, also jederzeit an einem passenden Ort und unter geeigneten Voraussetzungen wiederholbar sein soll. Mit der Propagierung einer weltweiten „Responsibility to Protect“, die praktisch einen Freibrief für Militärinterventionen darstellen soll, sind zivile Opfer schlecht zu vereinbaren. Die westlichen Regierungen können es sich andererseits aber auch leisten, über diese Folgen ihres Eingreifens zu schweigen, weil die Bevölkerung ihrer Länder sie kaum mit Fragen konfrontiert. Ethische Gesichtspunkte spielen im politischen Diskurs derzeit keine relevante Rolle. Auch die Linke hat es bisher nicht geschafft – und anscheinend nicht einmal ernsthaft angestrebt – die Frage von Krieg und Frieden nicht nur als ein Thema neben vielen anderen zu behandeln, sondern ihr einen zentralen Platz einzuräumen.

Als eine wesentliche außenpolitische Folge der Libyen-Intervention ist immerhin zu registrieren, dass die Bereitschaft Russlands und Chinas, den militärischen Alleingängen der NATO grünes Licht durch Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats zu geben, derzeit stark gesunken ist. Beide Staaten widersetzen sich einer Verurteilung Syriens, die von der westlichen Allianz zur Lizenz für die nächste Intervention verfälscht werden könnte, und sie sind auch in Sachen Iran vorsichtiger geworden. Niemand lässt sich gern permanent von der Gegenseite vorführen. Unter diesem Gesichtspunkt wird man in US- und NATO-Kreisen intern wohl doch darüber diskutieren, ob das libysche Abenteuer diese Konsequenzen wirklich wert war.

Andererseits muss sich erst noch erweisen, ob die Verstimmung in Moskau und Peking wirklich Ausdruck eines nachhaltigen Lerneffekts ist oder ob sie nur ein kurzzeitiges diplomatisches Spielchen ist. Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass Russland und China von den USA und deren Verbündeten im UN-Sicherheitsrat ausgenutzt und „hereingelegt“ wurden. Das war vor, während und nach dem ersten Irakkrieg (1991) nicht wesentlich anders, und es wiederholte sich vor dem zweiten Irakkrieg (2003). Dazu passt auch, dass die Führer beider Staaten bereits vier Sanktionsresolutionen der UNO gegen Iran mitgetragen haben, obwohl sie von Anfang an und zwischendurch immer wieder betonten, dass solche Strafmaßnahmen nach aller Erfahrung nicht nur wirkungslos, sondern geradezu kontraproduktiv seien.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 5. Januar 2012