KNUT MELLENTHIN

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Entführungen und Geheimverhöre

US-Präsident Barack Obama will auch künftig weltweit Kommando-Operationen durchführen lassen. Libysches Parlament protestiert gegen "Verletzung der nationalen Souveränität".

Nach den Kommando-Aktionen vom Wochenende in Somalia und Libyen hat US-Präsident Barack Obama angekündigt, dass er solche Operationen auch künftig durchführen lassen will. Dazu sagte er am Dienstag auf einer Pressekonferenz: „Wo es aktive terroristische Pläne und aktive Netzwerke gibt, werden wir Aktionen gegen sie unternehmen.“

Etwa 20 Mann einer US-amerikanischen Spezialeinheit hatten am Sonnabend in den nächtlichen Morgenstunden ein Gebäude in der somalischen Hafenstadt Barawe angegriffen, um ein dort vermutetes Mitglied der islamistischen Kampforganisation Al-Schabab gefangen zu nehmen oder zu töten. Sie stießen jedoch auf so heftige Gegenwehr, dass sie sich überstürzt zurückzogen und mit dem Schnellboot wieder verschwanden, mit dem sie gekommen waren. Einen Teil ihrer militärischen Ausrüstung ließen sie am Strand zurück. Al-Schabab stellte Fotos davon mit höhnischen Kommentaren ins Internet. Besonders stolz ist man dort, weil die zurückgeschlagenen Angreifer zur selben Einheit der Navy SEALS gehörten, die im Mai 2011 das Anwesen von Bin Laden in Pakistan gestürmt und den Unbewaffneten kurzerhand erschossen hatte. Die pakistanischen Streitkräfte hatten gegen die mehrstündige Aktion keinerlei Widerstand geleistet.

Die US-Regierung begründet den hastigen Abbruch der Operation in Barawe damit, dass unvermutet Kinder im Haus gewesen seien und auch „Zivilisten“ aus anderen Häusern aufgetaucht seien. Die Stadt gehört bekanntermaßen zum Machtbereich von Al-Schabab. Dass in dem Haus mehrere Familien leben würden, war zu erwarten. Dagegen hatten die Planer wohl nicht damit gerechnet, dass die Angegriffenen sehr schnell Hilfe von zu Dutzenden herbeieilenden bewaffneten Einwohnern der Stadt erhielten.

Ziel der Kommando-Aktion war nach Angaben der US-Regierung Mohamed Abdul-Kadir, aus dem jetzt ein hochrangiger Führer von Al-Schabab gemacht werden soll, obwohl sein Name bisher international so gut wie unbekannt war. Genau rechtzeitig ließ die kenianische Regierung am Montag Auszüge eines Geheimdossiers „durchsickern“, in dem Abdul-Kadir zahlreicher Attentatspläne gegen Politiker und Einrichtungen in Kenia beschuldigt wird. Indessen wird ihm bisher nicht eine einzige konkrete Tat vorgeworfen, die wirklich stattgefunden hat. Ausdrücklich wird zugegeben, dass es keine Hinweise gibt, dass Abdul-Kadir an der Planung des Überfalls auf das Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi beteiligt war, bei dem im September über 60 Menschen getötet wurden.

Wenige Stunden nach der fehlgeschlagenen Operation in Somalia entführte eine andere US-amerikanische Spezialeinheit den 49jährigen Nazih Abdul-Hamed al-Ruqai vor seinem Haus in der libyschen Hauptstadt Tripoli. Er wurde auf das im Mittelmeer stationierte Kriegsschiff San Antonio gebracht, wo er nun ohne anwaltlichen Beistand und lästige Zeugen von einer 2009 eigens für solche Zwecke geschaffenen Spezialisteneinheit „verhört“ wird. Der Gruppe gehören Mitarbeiter des Militärs, mehrerer Geheimdienste, der Bundespolizei FBI und des Justizministeriums an. Nach der Rechtsschöpfung der US-Regierung dürfen solche „Verhöre“ praktisch endlos lange fortgesetzt werden. Trotzdem erscheint das einigen republikanischen Politikern, darunter der unvermeidliche Senator Lindsey Graham, immer noch zu nahe an rechtsstaatlichen Grundsätzen: Sie fordern, dass Ruqai schleunigst nach Guantanamo gebracht werden soll.

Die US-Regierung beschuldigt Ruqai, dass er an der Planung mehrerer lange zurückliegender Anschläge beteiligt gewesen sei. Unter anderem habe er bei der Vorbereitung der Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Dar-as-Salam (Tansania) und Nairobi (Kenia) geholfen, bei denen 1998 über 220 Menschen getötet wurden. Bisher hat die US-Regierung aber keine Hinweise mitgeteilt, dass Ruqai sich in den letzten Jahren noch politisch oder gar terroristisch betätigt habe. In Tripoli lebte er seit seiner Rückkehr 2011 völlig offen. US-Medien hatten darüber schon im September 2012 berichtet.

Die libysche Regierung zeigte sich über das amerikanische Vorgehen leicht überrascht und verärgert, betonte aber, dass „dieses Ereignis“ die hervorragend guten Beziehungen zwischen beiden Ländern nicht beeinträchtigen werde. Weniger harmoniesüchtig äußerte sich das libysche Parlament, das die US-Operation als „flagrante Verletzung der nationalen Souveränität“ verurteilte. Ruqai müsse nach Libyen zurückgebracht werden. Als Sofortmaßnahmen müsse seiner Familie erlaubt werden, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und es müsse ihm ein Anwalt garantiert werden.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 10. Oktober 2013