KNUT MELLENTHIN

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"You only live twice"

Die Legende vom Tod der Neokonservativen - Teil 1

Am 30. Oktober, eine Woche vor den Kongresswahlen in USA, wartete "Spiegel Online" mit einer frohen Botschaft auf: "Das Ende der Neocons" - so die Artikelüberschrift - stehe greifbar nahe bevor. "Ein Verlierer der US-Kongresswahl steht jetzt schon fest, egal wer am kommenden Dienstag gewinnt: die Neokonservativen. Deren Ideologie von einer militärisch demokratisierten Welt unter amerikanischer Führung ist im Irak gescheitert."

An diesem Satz sind die wichtigsten Punkte falsch: Die Neokonservativen stehen nicht für eine Ideologie, sondern für eine politische Strategie und für konkretes Handeln. Und um Demokratisierung der Welt geht es dabei ganz und gar nicht. Sondern langfristig ist das Ziel, durch eine hybride Rüstung den USA die Hegemonie über die Welt für alle Zeiten zu sichern, wobei letztlich Russland und mehr noch China die Hauptfeinde der Zukunft sind. Und kurz- bis mittelfristig geht es darum, unter dem betrügerischen Titel einer "Neuordnung" den gesamten Nahen und Mittleren Osten immer weiter zu chaotisieren und in permanenten Kriegszustand zu versetzen.

Dass diese Strategie bereits "gescheitert" sei, ist eine vorschnelle Annahme. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass die USA ihre Kriege im Irak und in Afghanistan noch jahrelang weiter führen wollen, mit entsprechend destruktiven Folgen für die Bevölkerung der betroffenen Staaten. Luftangriffe gegen den Iran, möglicherweise sogar der erste Atomwaffen-Einsatz seit 1945, bleiben als ganz selbstverständlich erörterte "Optionen" weiterhin "auf dem Tisch". Und die Ausweitung des Afghanistan-Krieges auf das benachbarte Westpakistan ist vermutlich nur eine Frage der Zeit.

Nur zwei Überläufer

Um die These vom Ende der Neocons trotzdem irgendwie halbwegs plausibel erscheinen zu lassen, präsentierte der "Spiegel" genau einen einzigen Neokonservativen, der inzwischen der Strömung den Rücken gekehrt hat: Francis Fukuyama, bekannt geworden als Autor des 1992 erschienenen Buches "The End of History and the Last Man" ("Das Ende der Geschichte").

Um Fukuyamas Abfall von den Neocons als bedeutend erscheinend zu lassen, behauptete das Nachrichtenmagazin, er sei "lange der Lieblingsideologe der Republikaner" gewesen und er gelte als "Vater der Neocons". Die erste Aussage stimmt nicht und die zweite ist völlig falsch. Fukuyama war gerade mal um die 15 Jahre alt, als sich in der zweiten Hälfte der 60er die Strömung der Neokonservativen herauszubilden begann. Er hat in den 90er Jahren zwei von den Neocons initiierte Offene Briefe unterschrieben. Und er hat 1997, neben vielen anderen, die Gründungserklärung (Statement of Principles) des Project for the New American Century unterzeichnet. Damit ist seine Rolle unter den Neocons aber im Wesentlichen auch schon umrissen. Zu den Tonangebern dieser Strömung hat er nie gehört, an ihren Diskussionen hat er sich kaum beteiligt. Daher hat es jetzt auch keine große Bedeutung, wenn er sich kritisch über die praktischen Ergebnisse der neokonservativen Strategie ausspricht.

"Spiegel Online" behauptete weiter: "Mit ihm (Fukuyama) kehrten inzwischen die meisten alten Kämpen (der Neokonservativen) den Republikanern den Rücken. Neocons, ade." - "Die meisten"? Also zweifellos doch wohl sehr viele und zumindest mehr als die Hälfte? Aber weit gefehlt: Das Nachrichtenmagazin nannte außer Fukuyama nicht einen einzigen Namen. Viel mehr zu nennen dürfte auch sehr schwer fallen. Denn es gibt nur noch einen weiteren namhaften Politiker aus den Reihen der Neokonservativen, der mittlerweile die Seiten gewechselt hat: Richard Lee Armitage, der von 2001 bis 2005 stellvertretender Außenminister unter Colin Powell war.

Die meisten Neocons haben "den Republikanern den Rücken gekehrt"? Tatsächlich haben sie der Republikanischen Partei immer schon mit deutlicher Distanz gegenübergestanden. Anderenfalls wären sie keine eigenständige politische Strömung, die sich seit nunmehr fast vierzig Jahren behauptet. Die Republikaner sind aus neokonservativer Sicht lediglich ganz eindeutig das geringere Übel, verglichen mit der Demokratischen Partei. Daran hat sich absolut nichts geändert und wird sich nach Lage der Dinge auch künftig nichts ändern. Weder laufen die Neocons zu den Demokraten über, noch gehen sie, soweit es sich heute beurteilen lässt, als Strömung ihrer Selbstauflösung entgegen.

Es wäre überflüssig, über den "Spiegel" in diesem Zusammenhang auch nur ein Wort zu verlieren, wenn seine Phantastereien nicht symptomatisch wären für Dutzende von Artikeln der Mainstream-Medien, die in ähnlich oberflächlicher, voreiliger und vor allem sachlich völlig falscher Weise das "Ende der Neocons" abfeiern. "Totgesagte leben länger", heißt es zu Recht, und die US-amerikanischen Neokonservativen haben in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz als politische Strömung schon eine ganze Reihe von Totsagungen überlebt.

Eine zentrale Rolle bei der jetzigen Legendenbildung über das Ende der Neocons spielt ein Artikel, der am 3. November, vier Tage vor der Kongresswahl, vom Magazin "Vanity Fair" verbreitet wurde. Überschrieben mit "NOW they tell us" ("Das sagen sie uns JETZT") und "Neo Culpa". Letzteres eine Anspielung auf "Mea culpa", "Meine Schuld", das traditionelle Bekenntnis reumütiger Sünder in der katholischen Kirche. Bei dem Artikel handelte sich um die Kurzfassung einer Reihe von Interviews mit hochkarätigen Figuren des Neokonservativismus. Die vollständigen Interviews sollen erst in der Januar-Ausgabe von "Vanity Fair" erscheinen.

Keine Schuldbekenntnisse

Die im Internet vorab verbreiteten Kurzfassung war eine äußerst geschickt redigierte, auf die Schlussphase des Wahlkampfs berechnete Intervention zugunsten der Demokratischen Partei. Die suggerierte Kernaussage: Die Führer der neokonservativen Strömung sind verzweifelt über das Fiasko ihrer Strategie im Irak und fallen jetzt mit Schuldzuweisungen über Präsident George W. Bush her. In diesem Sinn formulierte "Harper's Magazine" am 20. November sehr witzig, aber inhaltlich voll daneben über einen der interviewten Neocons, Kenneth Adelman: "Eine Ratte verlässt das Narrenschiff". "Spiegel Online" schrieb am 4. November unter Bezugnahme auf "Vanity Fair": "Um den amerikanischen Präsidenten wird es wenige Tage vor den Kongresswahlen immer einsamer. Nun gehen auch die Neokonservativen wegen des Irak-Krieges zu Bush auf Distanz."

Am 5. November antworteten die interviewten Neokonservativen - Richard Perle, Michael Ledeen, Eliot Cohen, Michael Rubin, Frank Gaffney und David Frum - auf die Veröffentlichung von "Vanity Fair", indem sie dem Magazin unfaires Verhalten vorwarfen. Ihre persönlichen Stellungnahmen erschienen auf den Internetseiten der "National Review", dem wichtigsten Debattenforum der Neocons. Ein zentraler Vorwurf, den übereinstimmend alle Interviewten erhoben, lautete: Ihnen sei ausdrücklich versprochen worden, dass der Artikel erst in der Januar-Ausgabe und auf gar keinen Fall vor der Wahl erscheinen werde. Mit der Vorab-Veröffentlichung seien ihre Stellungnahmen bewusst für den Wahlkampf gegen die Republikaner und gegen Präsident Bush instrumentalisiert und teilweise auch manipuliert worden.

Einige Interviewte behaupteten darüber hinaus, ihre Aussagen seien sinnwidrig, "außerhalb des Kontextes", zitiert worden. Keiner stellte nachträglich sein Werben für den Irak-Krieg in Frage. Trotzig verkündete beispielsweise David Frum, der frühere Redenschreiber von Bush, der 2002 die "Achse des Bösen" erfand: "Meine grundsätzlichen Ansichten über den Irak-Krieg sind immer noch die selben wie 2003: Der Krieg war richtig, der Sieg ist lebenswichtig und eine Niederlage wäre eine Katastrophe."

Keiner der von "Vanity Fair" befragten Neokonservativen wollte Bush persönlich kritisiert haben. Der Präsident, so der allgemeine Tenor der Stellungnahmen in "National Review", habe lediglich die falschen Berater. Der dreiwöchige Krieg im Frühjahr 2003 sei brillant geführt worden, aber die danach eingeschlagene Politik sei voller verhängnisvoller Fehler gewesen. Das sei im Übrigen keine neue Erkenntnis, sondern diese Kritik habe man schon vor drei Jahren öffentlich geäußert.

Letzteres ist eindeutig richtig. Am Weitesten gingen dabei Richard Perle und David Frum mit ihrem im Dezember 2003 veröffentlichten Buch "An End to Evil. How to Win the War on Terror" ("Dem Bösen ein Ende. Wie man den Krieg gegen den Terror gewinnt"). In provozierend aggressiver, primitiv schwarz-weiß-malender, bewusst beleidigender Tonart beschuldigten die beiden Autoren 99 Prozent der amerikanischen Politiker und Meinungsmacher der Feigheit und der politischen Blindheit. Nur wenige Politiker nahmen sie von diesem vernichtenden Urteil aus: den Präsidenten, Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, zwei oder drei weitere Spitzenfunktionäre des Pentagon, und von den Politikern der Demokratischen Partei nur Joe Lieberman. Zwei Jahre nach dem Schock des 11. September 2001 hätten die Politik- und Medien-Eliten der USA die Lust am "Krieg gegen den Terror" verloren, behaupteten Perle und Frum. Als Gegenstrategie stellten sie ein Panoptikum abenteuerlicher Vorschläge vor. So etwa eine Militärintervention in Saudi-Arabien und die vollständige wirtschaftliche und politische Isolierung Frankreichs.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die meisten tonangebenden Neokonservativen - das gilt natürlich nicht für diejenigen, die Regierungsämter haben oder hatten - sich tatsächlich schon seit etwa Sommer 2003 in offener Opposition zur Bush-Regierung befinden. Kern dieser Opposition ist die Kritik, dass die Regierung nicht aggressiv genug vorgeht und dass sie viel zu viel Rücksicht auf andere Staaten - die Europäer, aber auch Russland und China - nimmt. Nichts daran lässt sich vernünftigerweise so interpretieren, als wäre das Ende der Neocons gekommen oder als würde auch nur ein relevanter Prozentsatz von ihnen heute den angerichteten Schaden selbstkritisch reflektieren. Die Legende vom "Ende der Neocons" ist ein evident den Tatsachen widersprechender Schwindel. Er geht von der Demokratischen Partei der USA und den ihnen nahe stehenden Medien aus, und er liegt auf gleicher Ebene wie die seit der Kongresswahl permanent wiederholten Behauptungen, es stehe ein grundlegender Wandel der US-amerikanischen Irak-Politik bevor.

Grabrede auf den Neokonservativismus

Vor über zehn Jahren, im Januar 1996, veröffentlichte die rechte Propagandazentrale American Enterprise Institute (AEI) einen sehr bemerkenswerten Vortrag, der den schlichten Titel trug: "Neoconservativism - A Eulogy", "Neokonservatismus - Eine Grabrede". Autor war ein Mann, der zu Recht als einer der Gründerväter dieser Strömung gilt: der 1930 geborene Norman Podhoretz. Aus der linken Studentenbewegung der frühen 60er Jahre kommend, war Podhoretz mitsamt der von ihm herausgegebenen intellektuellen Zeitschrift "Commentary" in kurzer Zeit zum äußersten rechten Rand der US-amerikanischen Politik hinübergeschlittert. Viele Neokonservative haben einen ähnlichen Lebenslauf hinter sich. Podhoretz ist immer noch einer der scharfsinnigsten Analytiker und Theoretiker des Neokonservativismus. Seine bald elf Jahre alte "Grabrede" kann als Beispiel dafür gelten.

"Der Neokonservatismus ist tot", verkündete Podhoretz zu Beginn seines Vortrages provokativ zugespitzt. Um diese These zu begründen, ließ er zunächst die Entwicklungsgeschichte der Neocons seit Ende der 60er Jahre kurz Revue passieren. Konstituiert hatte sich die Strömung ursprünglich aus Liberalen und aus Linken, die sich der Demokratischen Partei verbunden fühlten, vielfach auch sehr aktiv für diese tätig waren. Innen- und außenpolitische Gründe hatten sie dann veranlasst, sich zunächst auf den äußersten rechten Flügel der Demokraten zu konzentrieren und etwas später, überwiegend in der Mitte der 70er Jahre, zu den Republikanern zu wechseln.

Was waren die wesentlichen Punkte, in denen sich in der damaligen Konstituierungsphase die Neokonservativen vom traditionellen Konservatismus, wie ihn vor allem die Republikanische Partei repräsentiert, unterschieden, fragte Podhoretz sodann in seinem Vortrag. Folgende Differenzen hob er als wesentlich hervor:

Erstens: Die Neokonservativen teilten, auf Grund ihrer persönlichen Herkunft aus der Linken, der Arbeiterbewegung oder der Demokratischen Partei, nicht die totale Ablehnung des Sozialstaats durch den herkömmlichen Konservatismus und die Republikaner. Und während diese den Gewerkschaften insgesamt feindlich gegenüberstehen und sie für völlig überflüssig halten, bewahrten die Neokonservativen zunächst ein positives Verhältnis zu den Gewerkschaften, insbesondere zu deren antikommunistischem und antisowjetischem Flügel.

Zweitens: Die Neokonservativen waren, oft schon in ihrer mehr oder weniger linksradikalen Vergangenheit, von äußerster Feindseligkeit gegen die Sowjetunion erfüllt. Ihre diesbezüglichen Positionen waren sehr viel aggressiver als die des republikanischen Mainstreams. Sie übernahmen deshalb in den 70er Jahren, wie Podhoretz in seinem Vortrag sagte, "die Führung beim Auftreten gegen die Illusionen der Rüstungskontrolle und für eine stärkere nationale Verteidigung angesichts der großen Aufrüstungsmaßnahmen der Sowjetunion".

Drittens: Ein weiteres zentrales Motiv für die Formierung der Neokonservativen war laut Podhoretz ihre Opposition gegen die vor allem von der Studentenbewegung der 60er Jahre geprägte "Gegenkultur", vor der damals die Demokratische Partei und die ihr nahe stehenden Medien "kapituliert" hätten.

Podhoretz zog in seiner 1996er "Grabrede" das Fazit: "Betrachtet man nun diese Liste von Dingen, die den Neokonservativismus damals neu und anders machten, so wird offensichtlich, dass er nicht mehr länger als neues, besonderes Phänomen existiert, das einen eigenen Namen verdient."

So gebe es beispielsweise keinen nennenswerten Unterschied mehr zwischen alten Konservativen und Neocons in der absoluten Ablehnung des Sozialstaats. In Grundfragen der Außenpolitik und der Verteidigung traditioneller Werte gegen die "Gegenkultur" hätten sich die Neokonservativen weitgehend durchgesetzt; ihre Auffassungen seien nunmehr konservativer, republikanischer Mainstream.

Auf der anderen Seite, so Podhoretz im Jahre 1996, gebe es zu vielen neu aufgetauchten außenpolitischen Problemen keine einheitliche Linie der Neokonservativen mehr. "Es ist unmöglich geworden, eine neokonservative Position zu, sagen wir beispielsweise, Bosnien oder zur Frage der NATO-Erweiterung oder zum Umgang mit China zu definieren. "Früher hätte ich Ihnen mit großer Sicherheit sagen können, wo jeder beliebige Neokonservative zu fast Allen ernsthaften Themen der Weltpolitik stand. Heute hingegen würde es mich schwer ankommen, vorauszusagen, wo selbst einige meiner engsten Freunde stehen, wenn es um ein problematisches Thema wie Bosnien geht."

Neuorientierung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion

Podhoretz bezog sich damit auf die Tatsache, dass den Neokonservativen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des von ihr geführten "sozialistischen Lagers" das ganz große Thema abhanden gekommen war, mit dem man gut 20 Jahre lang die eigenen Reihen zusammengehalten hatte. An die Stelle des vereinheitlichenden Zentralthemas war zu dieser Zeit noch kein neuer außenpolitischer Konsens der neokonservativen Strömung getreten.

An seine Bestandsaufnahme schloss Podhoretz im Januar 1996 das Fazit an: Die bestehenden Unterschiede zum traditionellen Konservatismus reichten nicht aus, "um den Neokonservatismus ins Leben zurückzurufen. (...) Ich habe gute Gründen, sein Hinscheiden zu betrauern. Und doch muss ich gestehen, dass mir sein Tod mehr ein Anlass zum Feiern als für Traurigkeit zu sein scheint. Denn was den Neokonservativismus umgebracht hat, war keine Niederlage, sondern ein Sieg. Er starb nicht an seinem Versagen, sondern an seinem Erfolg."

Das konnte 1996, im Rückblick auf den Triumph der USA im Kalten Krieg über die Sowjetunion, an dem die Neokonservativen erheblichen Anteil hatten, mit einigem Recht so formuliert werden. Auf die heutige Situation hingegen ließe sich dieses Fazit offenbar nicht anwenden. Und doch können die Neocons in der Krise, in der sie schon seit Sommer 2003 stecken, zweierlei zu ihren Gunsten konstatieren:

Erstens: Die mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak geschaffenen Fakten will derzeit niemand rückgängig machen. Selbst die führenden Politiker der Demokraten sprechen sich, wenn auch verklausuliert, dafür aus, beide Kriege auf unbegrenzte Zeit fortzusetzen, nämlich bis zu einem "Erfolg". An der Richtung, in der die Neokonservativen die Entwicklung im gesamten Nahen und Mittleren Osten angeschoben haben, wird sich also in absehbarer Zeit nichts ändern. Der "Clash of Civilizations" als sich selbst erfüllende Prophezeitung hat bereit eine beträchtliche Eigendynamik aufgebaut.

Zweitens: Zentrale außenpolitische Anliegen der Neokonservativen lagen schon in den 90er Jahren keineswegs so weit entfernt vom politischen Mainstream, wie es angesichts mancher exzentrischer Äußerungen scheinen konnte. Dem Überfall auf den Irak-Krieg 2003 beispielsweise hatte vorab die Mehrheit der demokratischen Abgeordneten und Senatoren in Form eines Kriegsermächtigungsgesetzes zugestimmt. Führende Politiker der Demokraten wie Hillary Clinton - möglicherweise Präsidentschaftskandidatin in zwei Jahren - und John F. Kerry - Wahlgegner von Bush vor zwei Jahren - halten auch im Rückblick an ihrem Ja zum Krieg fest. Beim Aufbau eines Kriegsszenarios gegen den Iran herrscht eine große Koalition zwischen Republikanern und Demokraten.

Wenige Monate nach der "Grabrede" von Podhoretz veröffentlichten zwei prominente Neocons, William Kristol und Robert Kagan, im Sommer 1996 einen programmatischen Text unter dem Titel "Toward a Neo-Reaganite Foreign Policy", "Für eine neo-reaganistische Außenpolitik". Die Präsidentschaft Ronald Reagans (1981-1989) gilt den Neocons bis heute als goldenes Zeitalter. Der Aufsatz von Kristol und Kagan wurde zum Signal einer Wiederbelebung und Neuorientierung des Neokonservativismus. Am 26. Januar 1998 forderten zahlreiche führende Neocons und andere Republikaner in einem Offenen Brief an Präsident Bill Clinton erstmals den Einsatz militärischer Gewalt zum Sturz Saddam Husseins. Die Neokonservativen hatten ihr neues Zentralthema gefunden, das sie nach dem 11. September 2001 zum "Weltkrieg" gegen den "Islamofaschismus" ausweiteten.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 12. Dezember 2006